25 Januar 2020

Gottfried Kellers Selbstbiographie 1889

Selbstbiographie.
(1889)
(erschienen in der Chronik der Kirchgemeinde Neumünster. Herausgegeben von der Gemeinnützigen Gesellschaft von Neumünster 1889. S. 430 ff. - in Wikisource im Internet zu finden, seine früheren autobiographischen Schriften habe ich bereits am 24.1.20 vorgestellt.)
     Gottfried Keller ist geboren am 19. Juli 1819 in Zürich als Sohn des Drechslermeisters Rudolf Keller von Glattfelden, der 1817 nach der genannten Stadt gezogen war, aber schon im Jahre 1824 im Alter von dreiunddreißig Jahren starb, und seine Wittwe Elisabeth, geb. Scheuchzer von Zürich, mit zwei Kindern, dem fünfjährigen Knaben und einem dreijährigen Töchterchen hinterließ. Letzteres, nachdem es seit dem Tode der Mutter ein Vierteljahrhundert allein mit dem Bruder zusammengelebt, ist im Herbst 1888 sechsundsechszigjährig gestorben.
     Den Knaben wußte die Mutter bis zum Beginn des sechszehnten Jahres durch die Schulen zu bringen und ihm dann die Berufswahl nach seinen unerfahrenen Wünschen zu gewähren. Im Herbst 1814 kam er zu einem sogen. Kunstmaler in die Lehre, erhielt später den Unterricht eines wirklichen Künstlers, der aber, von allerlei Unstern verfolgt, auch geistig gestört war und Zürich verlassen mußte. So erreichte Gottfried sein zwanzigstes Jahr, nicht ohne Unterbrechung des Malerwesens durch anhaltendes Bücherlesen [2] und Anfüllen wunderlicher Schreibebücher, ergriff dann aber mit Ostern 1840 auf eigenen und fremden Rath den Wanderstab, um aus dem unsichern Thun hinauszukommen und in der Kunststadt München den rechten Weg zu suchen. Allein er fand ihn nicht und sah sich genöthigt, gegen Ende des Jahres 1842 die Heimat wieder aufzusuchen. Während er hier seine Bestrebung im Komponiren großer Phantasielandschaften von Neuem aufzunehmen glaubte, gerieth er hinter seinen Staffeleien unversehens auf ein eifriges Reimen und Dichten, so daß ziemlich rasch eine nicht eben bescheidene Menge von lyrischen Skripturen vorhanden war.
     Um diese Zeit lebte A. A. L. Follen in Hottingen, der vom Wartburgfeste her wegen seiner schönen Gestalt deutscher Kaiser genannt wurde, wie die Sage ging. Er war an der von Julius Fröbel gegründeten Verlagsbuchhandlung „Literarisches Comptoir in Zürich und Winterthur“ betheiligt, welche später auch Arnold Ruge nach Zürich zog, als seinen Reformplänen dienend.
     Follen, welchem Gottfried Keller nach Art junger Anfänger seinen Erstlingsvorrath vorgelegt, sichtete diese Papiere und veranlaßte die Aufnahme eines Theiles in das vom literarischen Comptoir herausgegebene „Deutsche Taschenbuch auf das Jahr 1845“, das poetische Beiträge von Hoffmann von Fallersleben, Robert Prutz u. A. brachte. Der zweite und letzte Jahrgang 1846 enthielt einen weitern Theil, und ein inzwischen entstandener Cyklus von Liedern erschien im Stuttgarter Morgenblatt. Aus diesen Bestandtheilen redigirte Follen, der die Sache väterlich an Hand genommen und führte, den ersten Band von Gottfried Keller’s Gedichten, der 1846 in Heidelberg erschien.
[3]      Um diesen Übergang zur Literatur zu bekräftigen, begann er ein und anderes Kollegium an der Universität zu hören, so Herbartische Psychologie und Geschichte der Philosophie bei Bobrik, und zwar ohne genügende Vorbildung, und that sich auch sonst etwa bequemlich um, wie ungezogene Lyriker zu thun pflegen. Nur das Dichten trieb er, ebenfalls nach der Weise solcher, gewissenhaft weiter, als ob jeder Tag ohne Vers verloren wäre. Die Aufregungen des Sonderbundskrieges und der darauffolgenden Februar- und Märzrevolutionen verrückten aber den Dichtern den Kompaß und stellten die Zeitlyrik eine Weile kalt. Die Einen saßen in den Parlamenten, die Andern vertauschten die Poesie mit mißlichen Kriegsthaten; für Gottfried Keller eröffnete sich der Ausweg, daß ihm von Seite der Kantonsregierung ein Reisestipendium behufs einer Orientfahrt zur Gewinnung „bedeutender Eindrücke“ angeboten wurde, übrigens ohne bestimmteren Zweck. Um solche Reise nutzbringender zu machen, wurde ihm freigestellt, vorher ein Jahr zur Vorbereitung auf einer deutschen Universität zuzubringen. Demnach begab er sich im Herbst 1848 nach Heidelberg; allein statt den ägyptologischen und babylonischen Dingen nachzugehen, ging er denjenigen nach, welche den Tag bewegten und von der Jugend gerühmt wurden. Bei Hermann Hettner, dem er persönlich befreundet wurde, hörte er dessen jugendlich lebendige Vorträge über deutsche Literargeschichte, Ästhetik und ein Publicum über Spinoza, bei Henle Anthropologie, bei Ludwig Häußer deutsche Geschichte, und als Unicum in seiner Art die Vorträge Ludwig Feuerbach’s über das Wesen des Christenthums, welche dieser, von einem Theil der Studentenschaft herberufen, auf dem [4] Rathhaussaale vor einem Publikum von Arbeitern, Studenten und Bürgern hielt. Durch all’ das gerieth Keller so in den Fluß der Gegenwart hinein, daß er vor Ablauf des Winterhalbjahres schon nach Hause schrieb, ob er das zweite Reisejahr statt in Ägypten, Palästina und der Enden, in Deutschland, z. B. in Berlin zubringen dürfte, was ihm sofort bewilligt wurde. Wegen der politischen Ereignisse des Jahres 1849, vorzüglich des badischen Aufstandes, war in diesem Jahre aber in Ortsveränderungen nicht viel zu thun, als bei aller Theilnahme das Mitleid zu empfinden, das der Anblick abgefallener, in ihrem Bewußtsein irre gewordener Truppen unter allen Umständen erweckt, wenn sie von fremder Hand hin- und hergeworfen werden. So wurde es Ostern 1850, bis Gottfried Keller den Rhein hinunterfuhr und in Berlin anlangte mit der Befugniß, dort noch ein Jahr nach Gutfinden der Pflege seiner literarischen Instinkte zu leben, zu sehen und zu hören, was denselben entgegenzukommen schien. Es geschah aber nicht viel mehr, als daß er sich in dramaturgische Studien zu vertiefen suchte, indem er so oft als möglich in die Theater ging und nachher an Hand des mitgenommenen Zeddels, den er aufbewahrte, eine Reihe von Betrachtungen und Folgerungen schrieb, die er für sich aufbehielt. Zugleich aber begann er den Roman „Grüner Heinrich“ zu schreiben, zu welchem einige Anfänge vorlagen. Die vier Bände dieses Buches erschienen 1854, denn es wurde Herbst 1855, bis er von Berlin wieder heimreiste.
     Im Jahre 1851 erschienen die neueren Gedichte, außerdem schrieb er in Berlin noch den ersten Band der „Leute von Seldwyla“, der 1856 an’s Licht trat. Manches wurde zwischen hinein getrieben und entworfen, so auch die ersten [5] Kapitel des „Sinngedichtes", das aber erst in den Siebzigerjahren vollendet, d. h. im Ganzen verfaßt wurde. Weil nun mit dem Jahre 1850 auch die Stipendiengelder zu fließen aufgehört hatten und damals die Honorareinnahmen für junge Leute noch spärlich waren, so gerieth Gottfried Keller in allerlei Nöthen von jener Art, die man nicht sieht, bis sie da sind.
     Im Jahre 1855 kehrte er endlich nach Zürich zurück, ein erweitertes Bewußtsein mit sich nehmend und in Deutschland gewonnene Freundeskreise zurücklassend.
     In Berlin hatte er noch die „Sieben Legenden" begonnen und schrieb sie nun zu Hause fertig. Gedruckt wurden sie erst 1872. Sodann schrieb er einen Theil der neueren Seldwyler Erzählungen, sowie für Berthold Auerbach’s Volkskalender „Das Fähnlein der sieben Aufrechten", welches Opus als Ausdruck der Zufriedenheit mit den vaterländischen Zuständen gelten konnte, als Freude über den Besitz der neuen Bundesverfassung. Es war der schöne Augenblick, wo man der unerbittlichen Konsequenzen, welche alle Dinge hinter sich her schleppen, nicht bewußt ist und die Welt für gut und fertig ansieht.
     Im Jahre 1861 war die Stelle des ersten Staatsschreibers neu zu besetzen. In Folge einer an ihn ergangenen Aufforderung bewarb sich Gottfried Keller, der nicht daran gedacht, um die Stelle und wurde von der Regierung mit fünf gegen drei Stimmen gewählt, was im gleichen Verhältnisse gebilligt und getadelt wurde. Er bekleidete das Amt während fünfzehn Jahren und legte es Anno 1876 in dem Augenblicke nieder, in welchem er sich überzeugt hatte, daß er die schwindenden Jahre mit besserem Erfolg als früher den literarischen Arbeiten widmen könne.
[6]      Diese wieder aufnehmend, gab er die „Züricher Novellen“ heraus (1878), dann den umgearbeiteten Roman „Der grüne Heinrich“ in einheitlicher autobiographischer Form und bedeutend gelichtet (1879), im Jahre 1881 den Novellencyklus „Das Sinngedicht“, 1883 die „Gesammelten Gedichte“ und 1886 den Roman „Martin Salander,“ der durch Ungunst der Verhältnisse seines ausführlichen Schlusses ermangelte und statt desselben einem selbständigen Buche rufen dürfte.
     Im Sommer 1889 begann die Ausgabe der gesammelten Werke Gottfried Keller’s zu herabgesetztem Preise in zehn Bänden. Ferner dürften einige jener dramatischen Projekte aus den jüngern Jahren in Gestalt von Erzählungen erscheinen, um die so lange Jahre vorgeschwebten Stoffe oder Erfindungen wenigstens als Schatten der Erinnerung zu erhalten und zu gewahren, ob die Welt vielleicht doch ein ausgelöschtes Lampenlicht darin erkennen wolle. Sollte es der Fall sein, wäre der Schaden, wo die Bühne wie ein Dornröschen von dem abschreckenden Verfallsgeschrei umschanzt ist, nicht groß.

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