03 Januar 2020

Gottfried Keller: Der grüne Heinrich 1. Fassung - Graf und Tochter

In der 1. Fassung begegnet Heinrich schon kurz hinter der deutschen Grenze dem Grafen und dem Mädchen, das er später als Dortchen Schönfund kennen lernt und entwickelt ein geheimes Einverständnis mit ihr.

"Deswegen ließ Heinrich auch jetzt seine Augen schweifen, links und rechts vom Wege, und guter Laune wurde in einem ansehnlichen Dorfe Halt gemacht. Der arme fahrende Schüler sah sich an den runden Sondertisch des Gasthauses versetzt und begann eben, still auf seinen Teller schauend, an die heimatliche Mittagstafel zu denken, als ein herrschaftlicher Wagen mit Wappen und Bedienten heranfuhr und seine Inhaber unter großem Geräusch der Wirtsleute in die Stube traten. Es waren eine schöne Dame von etwa dreißig, ein noch schöneres Mädchen von fünfzehn Jahren und ein großer feiner Herr im besten Mannesalter, welcher von dem Wirt untertänigst Herr Graf genannt wurde. Diese Umstände waren hinreichend, um für den unerfahrenen Heinrich ein kleines Abenteuer zu sein. Obgleich er sich gegen allen ungebührlichen Respekt gewappnet fühlte, konnte er doch nicht umhin, einige neugierige Blicke nach diesen überbürgerlichen Wesen hinzuwerfen, von denen er noch keines in der Nähe gesehen hatte und die jetzt am gleichen Tische Platz nahmen. Das nahe Rauschen und Knistern der seidenen Gewänder machte ihn befangen und behaglich zugleich, und während er sich mit seinen Händen und seinem Eßwerkzeuge möglichst enge zusammenhielt, hätte er sich doch um keinen Preis ganz von seinem Plätzchen hinweglocken lassen; denn wie zwei Frühlingssonnen ruhten die offenen kindlichen Augen des jungen Mädchens auf ihm. Er wagte auch bald das zweite Paar Blicke auszusenden, welche diesmal auf die ältere Dame trafen, wie sie ihn mit einem eiskalten, merkwürdigen Gesichte ansah und gar nicht zu bemerken schien, daß er sie ebenfalls betrachtete. Nachdem sie den rotgewordenen Heinrich eine Weile angesehen hatte, wandte sie ihre Augen wieder von ihm, wie wenn sie nur auf einem Krug oder einem Stuhl geruht hätten, ohne irgend einen jener feinen Übergänge, welche artigen und rücksichtsvollen Leuten in solchen Fällen schnell zu Gebote stehen. [...]
Während dieses Gespräches hatte sich zwischen Heinrich und dem jungen Dämchen ein artiger stummer Verkehr entsponnen. Das Hündchen auf ihrem Schöße blickte beständig nach dem Stückchen Kuchen hin, welches verlassen und unerreichbar auf dem Tische lag, das Mädchen langte danach, Heinrich anblickend, wie um Erlaubnis zu bitten, konnte es aber nicht erreichen, so daß er es ihr näher hinschob. Der Hund mußte nun seine Künste machen, ehe er den Kuchen erhielt, Heinrich legte ein anderes Stück auf die neutrale Mitte des Tisches, von wo es das freundliche Kind wegholte, und so ging es fort, bis der Vorrat verzehrt war. Dabei hatte sie den Fremden nicht mehr angesehen, jedoch so laut und fröhlich zu dem Tierchen gesprochen und die Hände so fest und traulich nach dem Backwerke bewegt, daß er sich wohl als zur Gesellschaft gehörig betrachten durfte, und er erwiderte auch diese Freundlichkeit durch die größte Stille und Bescheidenheit. Als der Graf nun die Damen nach dem Wagen hinaus führte, um dort von ihnen Abschied zu nehmen, grüßte die Kleine unter der Türe Heinrich ganz allerliebst und dieser machte dem unerwachsenen Kinde ein so ernsthaftes Kompliment, als wenn er die ehrwürdigste Matrone vor sich gehabt hätte. [...]"
(Keller: Der grüne Heinrich 1. Fassung, 1. Band 3. Kapitel)

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