Um Kellers 200. Geburtstag war es relativ still.
"Ich bin im Jahre 1819 geboren. Mein Vater war ein Drechslermeister, von Glattfelden gebürtig, welcher sich in Zürich niederließ, ein aufgeweckter und wohlmeinender Mann; leider starb er schon, als ich kaum fünf Jahr alt war. Meine Mutter schickte mich in mehrere Schulen, zuletzt in die eben eröffnete Kantonsschule. Ich kam aber nicht weiter als bis in die dritte Klasse der untern Abteilung der Industrieschule, indem ich infolge von Unordnungen und Auftritten, welche sich die ganze Klasse gegen einen mißbeliebten Lehrer zuschulden kommen ließ, ziemlich unbegründet als Sündenbock ausgejagt wurde. Hierdurch wurde ein für allemal meine Schulerziehung abgeschnitten; denn meine Mutter hatte nicht die Mittel, mich in ein Privatinstitut unterzubringen. Wenn ich auch in der Schule nur in einem oder zwei Lieblingsfächern, z.B. in den sprachlichen, fleißig und eifrig gewesen war, so war ich doch während der Zeit außer der Schule immer vollauf beschäftigt; ich trieb eine heimliche unbewußte Schriftstellerei, welche in Dramatisierung der in der Schule vorkommenden geschichtlichen Aufsätze und den herkömmlichen Robinsonaden bestand. Mehr noch nahm mich eine wunderliche Malerei in Anspruch: was ich nur von Nürnberger Kinderfarben auftreiben konnte, wurde zur Nachbildung von Morgen- und Abendrot und anderer Himmelseffekte angewendet, welche dazumal meine Phantasie aufs dringendste beschäftigten. Eine Art von autodidaktischer Gewandtheit, die ich darin erlangte, erregte den sehnlichsten Wunsch in mir, Maler zu werden, und so kam es, daß ich nach meiner Ausweisung aus der Schule es durchsetzte. Da meine Mutter aber gerade so wenig Einsicht als ich selbst in den Gang einer künstlerischen Ausbildung [831] hatte und überdies von allem guten Rat entblößt war, so kam ich in die Hände unfähiger Leute, welche keinen Begriff von dem wahren Wesen der Kunst hatten. Ehe ich einen vernünftigen Strich zeichnen konnte, begann ich, meinem angeborenen Produktionstrieb folgend, allerlei Landschaften zu komponieren und derlei dummes Zeug zu treiben; man ließ mich aus Mangel an eigener Kenntnis und daher auch aus Mangel an Autorität gewähren, und ehe ich mich besann, war ich zwanzig Jahre alt geworden, ohne eigentlich etwas Rechtes zu können. Von Verdienen war keine Rede, denn bei aller Ungeschicklichkeit hatte ich immer einen unbändigen Künstlerstolz und wollte nichts beginnen, was nicht meinen inneren Wünschen und Begriffen entsprach.
Im Jahre 1840, als ich doch das Mißliche meiner Stellung bedenklich zu finden anfing, entschloß ich mich zu einem neuen Anfange. Ich ging mit einigen hundert Gulden, welche ich von väterlicher Seite her ererbt hatte, nach München. Die deutsche Kunst, welche hier einen Hauptsitz hat, machte gleich zu Anfang einen gewaltigen Eindruck auf mich, und mein Geschmack bildete sich ziemlich schnell aus. Ich war aber ohne Empfehlungen gekommen, lebte ohne nähere Bekanntschaft mit ausgezeichneten Künstlern, auf der Akademie war für die Landschaftsmalerei gar kein Lehrer, noch Raum: so war ich mir wieder selbst überlassen. Obgleich ich zwar mit mehr Überlegung und Wahl arbeitete, so blieb ich doch in technischer Ausführung zurück. Ich unternahm große Kartons und Bilder, welche ihres Gedankenreichtums wegen den Künstlern gefielen; fertigmachen aber konnte ich sie nicht, hatte auch keinen besondern Trieb dazu; wenn ein Bild gezeichnet, angelegt und in einige Beleuchtung und Haltung gebracht, somit der Hauptgedanke ausgesprochen war, so drängte sich mir schon wieder ein anderes auf, und das erste blieb liegen. Dazu kam, daß ich durch die Stoffe der vielen Kunstwerke, die ich in München sah, auf die poetische Literatur geführt wurde. Das Nibelungenlied war mir neu und imponierte mir, Romantisches und Klassisches drang in verworrenen Massen auf mich ein, das persönliche Leben und der Umgang mit deutschen Künstlern, Künstlerfeste und dergleichen weckten und unterhielten Stimmungen und Anschauungen in mir, die ich vorher oft geahnt und nun in schönster Genüge hatte,[832] aus denen ich aber zu klarem Bewußtsein herauszukommen strebte; und, unwillkürlich auf eine geordnetere und anhaltende Lektüre geraten, trieb ich meiner Kunst und meinen Verhältnissen ziemlich fremde Studien zu einer Zeit, wo ich mich doppelt hätte zusammennehmen müssen, um die Not, welche vor der Türe stand, abzuhalten. Diese brach wirklich herein und machte mein Leben auch in dieser Beziehung ziemlich pikant und poetisch. Zuletzt schlug die Sache aber allzusehr in Prosa über, und ich war genötigt, die Zuflucht wieder ins mütterliche Haus zu nehmen, mit dem Vorsatze, sobald als möglich zurückzukehren und die Sache gescheiter als bisher zu treiben.
Ich befand mich in großer Niedergeschlagenheit, als ich im Herbst 1842 nach Zürich zurückkehrte, und mein einziges Trachten war München. Es wollte sich aber nichts zeigen, welches mir die Rückkehr möglich machte.
Da machte ich von ungefähr im Frühling 1843 einige Verse, die ersten fast in meinem Leben, und war sehr verwundert über die Leichtigkeit, womit sie mir gelangen. Sogleich fiel ich auf den wunderlichen Einfall, einen Band Gedichte herauszugeben und mit dem Gelde, welches ich dafür erhalten würde, nach München zurückzukehren. Ich dichtete den ganzen Sommer und Herbst über tüchtig darauf los. Die Zeitereignisse führten noch die Politik in den Kreis meines Bewußtseins. Als ich einen ziemlichen Pack Reimereien beieinander hatte, überschickte ich sie Professor Follen und bat ihn mit angstvoller Erwartung um Entscheidung über Sein oder Nichtsein dieser Versuche, wie schon viele meiner Landsleute vor mir; denn er ist zu seiner großen Unbequemlichkeit das Orakel der poetischen Anfänger in der Schweiz geworden. Er fand das meiste meiner Sachen unbrauchbar, das übrige aber gut genug, mich zur entschieden poetischen Laufbahn aufzumuntern. Es wurde gleich einiges in einem Taschenbuche gedruckt, fand günstige Aufnahme und erwarb mir wohlwollende und belehrende Freunde. Ich fing an, mich gründlicher in der Geschichte der deutschen Literatur zu orientieren, und trieb mein eigenes Dichten besonnener als bisher. Insofern schien ich keinen üblen Tausch gemacht zu haben, als ich in der schreibenden Poesie weniger Zeit und Ausdauer zur Bekleidung eines Gedankens brauchte als in der malenden, was meinem Produktionstrieb sehr zusagte. Ob ich [833] wirklich zum Dichter geboren bin und dabei bleiben werde, ob ich wieder zur bildenden Kunst zurückkehren oder gar beides miteinander vereinigen werde, wird die nähere Zukunft lehren. Wenn ich auch keine gelehrte Erziehung genossen habe, so ersetzt mir die Schule eines bewegten Lebens dasjenige, was sich nicht nachholen läßt."
1876 schreibt er über diese Zeit:"[...] Kurz, ich lebte in gedrängtester Zeitfrist alle Phasen eines erhitzten und gehätschelten jungen Lyrikers durch und blieb wohl nur wenige von den Thorheiten und Ungezogenheiten schuldig, die einem solchen anhaften.
Da kam das Jahr 1848 und mit ihm zerstoben Freunde, Hoffnungen und Theilnahme nach allen Winden und meine junge Lyrik saß frierend auf der Haide. Nur einige ernstere Gelehrte und Magistrate, aus Deutschen und Schweizern gemischt, die still zugesehen hatten, zeigten sich und veranlaßten nun, daß ich mit einem Staatsstipendium auf Reisen gesandt wurde, um nachträglich auch noch etwas zu lernen. Mein Malkasten war längst zugeschlossen und jenes unheizbare Atelier verlassen, und so zog ich zum zweiten Male aus, um an deutschen Schulen, wo es gut schien, meinen Aufenthalt zu nehmen.
Auf diesen Fahrten nahm ich den einst angefangenen Roman wieder zur Hand, dessen Titel: „Der grüne Heinrich“, schon existirte. Ich gedachte immer noch, nur einen mäßigen Band zu schreiben; wie ich aber etwas vorrückte, fiel mir ein, die Jugendgeschichte des Helden oder vielmehr Nichthelden als Autobiographie einzuschalten mit Anlehnung an Selbsterfahrenes und Empfundenes. Ich kam darüber in ein solches Fabuliren hinein, daß das Buch vier Bände stark und ganz unförmlich wurde. Ursache hiervon war, daß ich eine unbezwingliche Lust daran fand, in der vorgerückten Tageszeit einen Lebensmorgen zu erfinden, den ich nicht gelebt hatte, oder, richtiger gesagt, die dürftigen Keime und Ansätze zu meinem Vergnügen poetisch auswachsen zu lassen. Jedoch ist die eigentliche Kindheit, sogar das Anekdotische darin, so gut wie wahr, hier und da blos, in einem letzten Anfluge von Nachahmungstrieb, von der konfessionellen Herbigkeit Rousseaus angehaucht, obgleich nicht allzu stark. [...]
Dagegen ist die reifere Jugend des „grünen Heinrich“ zum größten Theile ein Spiel der ergänzenden Phantasie und sind namentlich die beiden Frauengestalten gedichtete Bilder der Gegensätze, wie sie im erwachenden Leben des Menschen sich bestreiten.
Endlich aber mußte das Buch doch ein Ende erreichen. Der Verleger, welcher sich erst über die unverhoffte Ausdehnung und das langsame Vorrücken desselben beschwert hatte, interessirte sich zuletzt für den wunderlichen Helden und flehte, als Vertreter seiner Abnehmer, um dessen Leben. Allein hier blieb ich pedantisch an dem ursprünglichen Plane hangen, ohne doch eine einheitliche und harmonische Form herzustellen. Der einmal beschlossene Untergang wurde durchgeführt, theils in der Absicht eines gründlichen Rechnungsabschlusses, theils aus melancholischer Laune. Ich nahm die Sache auch insofern von der leichten Seite, als ich dachte, man werde den sogenannten Roman eben als ein Buch nehmen, in welchem mancherlei lesbare Dinge ständen, wie man sich Lesedramen gefallen läßt. So wurde der grüne Heinrich also begraben.
Allein er schläft nicht sehr ruhig; denn wie ich höre wird der arme Kerl in den Mädchenpensionaten, wenn der Sprach- und Literaturlehrer auf das Kapitel das Romanes [22] kommt, stets heraufbeschworen und vor die unaufmerksamen Schülerinnen hingestellt, herumgedreht, hin- und hergeführt und muß als abschreckendes Beispiel dienen, wie ein guter Roman nicht beschaffen sein soll, und es hilft gegen diese grausame Belästigung nicht der Umstand, daß der Ärmste ja mittelst der eigenen Vorrede die Erklärung in der Tasche mit sich führt, daß er kein rechter Roman sei.
Wenn auch ein schlechter, so war ich bei der Dicke des Buches nun doch ein Schriftsteller und begab mich mit dieser letzten verspäteten Jugendstudie wieder über den Rhein zurück."
(Autobiographisches 1876, ab S.7)
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