Den
3. Oktober. [1786]
Heute
dagegen sah ich eine andere Komödie, die mich mehr gefreut hat. Im
herzoglichen Palast hörte ich eine Rechtssache öffentlich
verhandeln; sie war wichtig und zu meinem Glück in den Ferien
vorgenommen. Der eine Advokat war alles, was ein übertriebener Buffo
nur sein sollte. Figur dick, kurz, doch beweglich, ein ungeheuer
vorspringendes Profil, eine Stimme wie Erz und eine Heftigkeit, als
wenn es ihm aus tiefstem Grunde des Herzens Ernst wäre, was er
sagte. Ich nenne dies eine Komödie, weil alles wahrscheinlich schon
fertig ist, wenn diese öffentliche Darstellung geschieht; die
Richter wissen, was sie sprechen sollen, und die Partei weiß, was
sie zu erwarten hat. Indessen gefällt mir diese Art unendlich besser
als unsere Stuben- und Kanzleihockereien. Und nun von den Umständen
und wie artig, ohne Prunk, wie natürlich alles zugeht, will ich
suchen einen Begriff zu geben.
In
einem geräumigen Saal des Palastes saßen an der einen Seite die
Richter im Halbzirkel. Gegen ihnen über, auf einem Katheder, der
mehrere Personen nebeneinander fassen konnte, die Advokaten beider
Parteien, unmittelbar vor demselben, auf einer Bank, Kläger und
Beklagte in eigner Person. Der Advokat des Klägers war von dem
Katheder herabgestiegen, denn die heutige Sitzung war zu keiner
Kontrovers bestimmt. Die sämtlichen Dokumente für und wider,
obgleich schon gedruckt, sollten vorgelesen werden.
Ein
hagerer Schreiber in schwarzem, kümmerlichem Rocke, ein dickes Heft
in der Hand, bereitete sich, die Pflicht des Lesenden zu erfüllen.
Von Zuschauern und Zuhörern war übrigens der Saal gedrängt voll.
Die Rechtsfrage selbst sowie die Personen, welche sie betraf, mußten
den Venezianern höchst bedeutend scheinen.
Fideikommisse
haben in diesem Staat die entschiedenste Gunst, ein Besitztum,
welchem einmal dieser Charakter aufgeprägt ist, behält ihn für
ewige Zeiten, es mag durch irgend eine Wendung oder Umstand vor
mehrern hundert Jahren veräußert worden, durch viele Hände
gegangen sein, zuletzt, wenn die Sache zur Sprache kommt, behalten
die Nachkommen der ersten Familie recht, und die Güter müssen
herausgegeben werden.
Diesmal
war der Streit höchst wichtig, denn die Klage ging gegen den Doge
selbst, oder vielmehr gegen seine Gemahlin, welche denn auch in
Person auf dem Bänkchen, vom Kläger nur durch einen kleinen
Zwischenraum getrennt, in ihren Zendal gehüllt, dasaß. Eine Dame
von gewissem Alter, edlem Körperbau, wohlgebildetem Gesicht, auf
welchem ernste, ja, wenn man will, etwas verdrießliche Züge zu
sehen waren. Die Venezianer bildeten sich viel darauf ein, daß die
Fürstin in ihrem eignen Palast vor dem Gericht und ihnen erscheinen
müsse.
Der
Schreiber fing zu lesen an, und nun ward mir erst deutlich, was ein
im Angesicht der Richter unfern des Katheders der Advokaten hinter
einem kleinen Tische auf einem niedern Schemel sitzendes Männchen,
besonders aber die Sanduhr bedeute, die er vor sich niedergelegt
hatte. Solange nämlich der Schreiber liest, so lange läuft die Zeit
nicht, dem Advokaten aber, wenn er dabei sprechen will, ist nur im
ganzen eine gewisse Frist gegönnt. Der Schreiber liest, die Uhr
liegt, das Männchen hat die Hand daran. Tut der Advokat den Mund
auf, so steht auch die Uhr schon in der Höhe, die sich sogleich
niedersenkt, sobald er schweigt. Hier ist nun die große Kunst, in
den Fluß der Vorlesung hineinzureden, flüchtige Bemerkungen zu
machen, Aufmerksamkeit zu erregen und zu fordern. Nun kommt der
kleine Saturn in die größte Verlegenheit. Er ist genötigt, den
horizontalen und vertikalen Stand der Uhr jeden Augenblick zu
verändern, er befindet sich im Fall der bösen Geister im
Puppenspiel, die auf das schnell wechselnde »Berlickel Berlockel«
des mutwilligen Hanswursts nicht wissenWer
in Kanzleien hat kollationieren hören, kann sich eine Vorstellung
von dieser Vorlesung machen, schnell, eintönig, aber doch
artikuliert und deutlich genug. Der kunstreiche Advokat weiß nun
durch Scherze die Langeweile zu unterbrechen, und das Publikum
ergötzt sich an seinen Späßen in ganz unmäßigem Gelächter.
Eines Scherzes muß ich gedenken, des auffallendsten unter denen, die
ich verstand. Der Vorleser rezitierte soeben ein Dokument, wodurch
einer jener unrechtmäßig geachteten Besitzer über die fraglichen
Güter disponierte. Der Advokat hieß ihn langsamer lesen, und als er
die Worte deutlich aussprach: »Ich schenke, ich vermache!«, fuhr
der Redner heftig auf den Schreiber los und rief: »Was willst du
schenken? was vermachen? du armer ausgehungerter Teufel! gehört dir
doch gar nichts in der Welt an. Doch«, fuhr er fort, indem er sich
zu besinnen schien, »war doch jener erlauchte Besitzer in eben dem
Fall, er wollte schenken, wollte vermachen, was ihm so wenig gehörte
als dir.« Ein unendlich Gelächter schlug auf, doch sogleich nahm
die Sanduhr die horizontale Lage wieder ein. Der Vorleser summte
fort, machte dem Advokaten ein flämisch Gesicht; doch das sind alles
verabredete Späße.
(Goethe: Italienische Reise)
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