15 Juli 2020

Neapel

Der Ausspruch, man müsse, um behaglich zu leben, den Winter in Petersburg und den Sommer in Neapel zubringen, hat sich mir zur letztern Hälfte als Wahrheit erwiesen. Mit der ersten Sommerwärme verschwinden aus allen Zimmern die Teppiche, die Fenstervorhänge und Portieren. Man entfernt selbst die Polstermöbel, soweit es tunlich ist, und sucht sie durch Rohrsessel zu ersetzen. [...]
Wer es irgend möglich machen kann, beginnt den Tag mit einem Seebade. Wie allgemein diese Sitte verbreitet ist, davon kann man sich morgens an der Riviera di Chiaia überzeugen, wo von fünf bis zehn Uhr Scharen von Menschen aus allen Ständen nach den zahlreichen Badeanstalten hinströmen. Dem Seebade folgt das Frühstück, dem in vielen Häusern schon Früchte und Eiswasser beigesellt werden. Nach demselben hält man sich, wenn man nicht durch Geschäfte zum Ausgehen gezwungen ist, in seinen Zimmern, und es möchte nicht viele geben, welche während der Mittagszeit dem Schlafe widerstehen können. Wenn wir von der Siesta sprechen hören, so denken wir uns, daß man sich um die Zeit gehörig zur Ruhe lege, und das kommt uns unnatürlich und komisch vor. Lebt man aber im Süden, wo man zeitig aufsteht und die halbe Nacht im Freien zubringt, dann macht es sich ganz von selbst, daß man sich gegen die Höhe des Tages für ernste Beschäftigung zu abgespannt fühlt, eine leichtere Arbeit wählt und bei dieser einschläft, ohne daß man es will und bemerkt. So verträumt man eine Stunde und erwacht, nachdem man ganz aus dem Stegreif auf gut italienisch seine Siesta gehalten hat. [...]
Wenn man vom Toledo ins Theater gefahren ist und dort einen oder ein paar Akte mit angesehen hat, so ist es etwa zehneinhalb Uhr und nach neapolitanischen Begriffen noch nicht zu spät, Visiten zu machen. Einzelne Häuser empfangen an bestimmten Abenden der Woche, andere täglich. Man plaudert, musiziert sehr viel, und die Anwesenheit der zahlreichen Fremden von allen Nationen nimmt der Unterhaltung jenen kleinlichen Koteriegeist, der bald so ermüdend wird. Wohin man kommt, sind alle Fenster der Wohnung geöffnet, und alle Damen sitzen mit Fächern in den Händen, die hier keine Modesache, sondern eine Notwendigkeit sind. Selbst im engen Familienleben hat jede Frau einen kleinen, grünen Fächer neben sich. Man vermißt ihn, wenn man ihn nur kurze Zeit entbehrt. Dies Umherfahren dauert von sieben Uhr abends bis nach Mitternacht in Neapel, und die Nächte sind so schön, daß man jedesmal aufs neue erquickt wird, wenn man von einem Besuche in den Häusern wieder auf die Straße zurückkehrt. [...]
Einer der Männer aus unserer Gesellschaft ging hinein, das Abendbrot anzuordnen, während wir die Wagen verließen, um die Boote zu besteigen. Das Meer war glatt und glänzend wie ein Spiegel, kein Luftzug bewegte seine Oberfläche, so daß die Gestirne ganz hell aus der Tiefe widerstrahlten und man sich wie zwischen zwei gleichen Elementen geschaukelt empfand; denn Meer und Luft waren beide gleich dunkel und beide mit Myriaden leuchtender Sterne durchfunkelt. Langsam glitten unsere Boote über die Wasserfläche dahin, nur der leise Schlag der Ruder störte die Stille. Der Mond stand hoch am Himmel und vergoldete mit seinem Lichte die Rauchsäule des Vesuvs, die sich ruhig zum Himmel hinaufkräuselte. Aus den Villen am Ufer blinkten die Lichter durch die geöffneten Fenster und von den weinumrankten Verandas hervor. Eine große, breitblättrige Palme bewegte ihre Blätteräste langsam unter dem linden Hauche der Nachtluft. Zahlreiche Fischerkähne zogen neben uns und in jeder Richtung durch das Wasser. Viele führten eine brennende Fackel am Vorderteile aufgesteckt, um die lichtliebenden Hummern herbeizulocken. Die dunkelrot glühenden Flammen hatten in der ruhigen Natur und bei dem milden Strahl des Mondes etwas Wildes, Dämonisches. »Sie sehen wie die Seelen der Verdammten aus, die nicht Ruhe finden zwischen Himmel und Erde«, sagte der Herzog von R., ein geachteter Staatsmann und Dichter Spaniens, der in der Gesellschaft war. [...]
Als wir vor unserer Osterie landeten, war unter dem Blätterdache der Veranda die Abendtafel gedeckt. Nur echt neapolitanische Speisen wurden aufgetragen. Eine Suppe von Schnecken und Muscheln machte den Anfang. Frutti di mare (Austern und kleine Schaltiere), Makkaroni, Hummern, grüne Salate, Fische, Ziegen- und andere Braten folgten, und Apfelsinen, Feigen, Pfirsiche und Trauben bildeten in Begleitung von Capri- und Falerner Weinen den Schluß des Mahles, das für den ungewohnten Gaumen in der Schneckensuppe, dem Ziegenfleisch und manchen andern Herrlichkeiten Neapels zwar wohlschmeckende, aber doch ziemlich unverdauliche Elemente darbot. Alle Speisen waren sehr fett, viele mit Käse gewürzt. Schon während wir bei Tische saßen, hatten sich drei Gitarrenspieler eingefunden, welche die bekanntesten Nationalmelodien dreistimmig spielten. Als wir vom Mahle aufstanden, fing einer der Musiker, ein Greis von kräftiger Physiognomie, Buffoarien zu singen an und begleitete diese mit so lebhaftem Mienenspiel und so ausdrucksvollen Gebärden, daß ich den Inhalt erraten konnte, obschon ich aus dem neapolitanischen Patois nur einzelne Worte erkannte. [...]
Mitten in diesem Gesange fingen die beiden jüngeren Begleiter des Alten an, ihn halb singend, halb sprechend zu begleiten, und es bildete sich dadurch ein in gewisser Art improvisiertes Intermezzo, das diejenigen, welche es verstanden, sehr belustigend fanden. Der Liebeshandel eines betrogenen Alten war der Inhalt desselben. Das Ganze währte ein paar Minuten und schloß, indem die drei Musiker die Tarantella zu spielen begannen. Sogleich traten eine junge Russin und ein Spanier auf der Veranda zum Tanze an. Ein andres Paar folgte, man brachte ihnen Kastagnetten, und fröhlich klang der Rhythmus dieses einfachen Instrumentes durch die Luft. Die jüngern Personen versuchten eine Galoppade, als die Tarantella beendet war, die Lust und das Lachen wurden allgemein. Unten vor der Türe der Osterie bewachten Stallbuben die Pferde und Wagen der Gesellschaft, während die Kutscher und Diener die Röcke abgeworfen hatten und ebenfalls nach dem Takte der Kastagnetten tanzten, welche ihre Herrschaft auf der Veranda erschallen ließen. Aber während des Tanzes zog ein leiser, frischer Hauch durch die Luft, der Morgenwind verkündete den Anbruch des Tages. Die Fackeln auf den Fischerbooten erloschen, der Mond sank dem Meere zu, und lichte Streifen wurden am östlichen Himmel sichtbar. Es mochte gegen drei Uhr sein, als wir uns zur Abfahrt rüsteten.
(Fanny Lewald: Italienisches Bilderbuch, Ein Souper am Posilip)

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