17 Juli 2020

Venedig bei Goethe, Fanny Lewald und Fontane

Venedig (Wikipedia)
"So stand es denn im Buche des Schicksals auf meinem Blatte geschrieben, daß ich 1786 den achtundzwanzigsten September, abends, nach unserer Uhr um fünfe, Venedig zum erstenmal, aus der Brenta in die Lagunen einfahrend, erblicken und bald darauf diese wunderbare Inselstadt, diese Biberrepublik betreten und besuchen sollte. So ist denn auch, Gott sei Dank, Venedig mir kein bloßes Wort mehr, kein hohler Name, der mich so oft, mich, den Todfeind von Wortschällen, geängstiget hat.
Als die erste Gondel an das Schiff anfuhr (es geschieht, um Passagiere, welche Eil' haben, geschwinder nach Venedig zu bringen), erinnerte ich mich eines frühen Kinderspielzeuges, an das ich vielleicht seit zwanzig Jahren nicht mehr gedacht hatte. Mein Vater besaß ein schönes mitgebrachtes Gondelmodell; er hielt es sehr wert, und mir ward es hoch angerechnet, wenn ich einmal damit spielen durfte. Die ersten Schnäbel von blankem Eisenblech, die schwarzen Gondelkäfige, alles grüßte mich wie eine alte Bekanntschaft, ich genoß einen langentbehrten freundlichen Jugendeindruck. [...]
Den 29sten, Michaelistag, abends.
Von Venedig ist schon viel erzählt und gedruckt, daß ich mit Beschreibung nicht umständlich sein will, ich sage nur, wie es mir entgegenkommt. Was sich mir aber vor allem andern aufdringt, ist abermals das Volk, eine große Masse, ein notwendiges, unwillkürliches Dasein.
Dies Geschlecht hat sich nicht zum Spaß auf diese Inseln geflüchtet, es war keine Willkür, welche die Folgenden trieb, sich mit ihnen zu vereinigen; die Not lehrte sie ihre Sicherheit in der unvorteilhaftesten Lage suchen, die ihnen nachher so vorteilhaft ward und sie klug machte, als noch die ganze nördliche Welt im Düstern gefangen lag; ihre Vermehrung, ihr Reichtum war notwendige Folge. Nun drängten sich die Wohnungen enger und enger, Sand und Sumpf wurden durch Felsen ersetzt, die Häuser suchten die Luft, wie Bäume, die geschlossen stehen, sie mußten an Höhe zu gewinnen suchen, was ihnen an Breite abging. Auf jede Spanne des Bodens geizig und gleich anfangs in enge Räume gedrängt, ließen sie zu Gassen nicht mehr Breite, als nötig war, eine Hausreihe von der gegenüberstehenden zu trennen und dem Bürger notdürftige Durchgänge zu erhalten. Übrigens war ihnen das Wasser statt Straße, Platz und Spaziergang. Der Venezianer mußte eine neue Art von Geschöpf werden, wie man denn auch Venedig nur mit sich selbst vergleichen kann. Der große, schlangenförmig gewundene Kanal weicht keiner Straße in der Welt, dem Raum vor dem Markusplatze kann wohl nichts an die Seite gesetzt werden. Ich meine den großen Wasserspiegel, der diesseits von dem eigentlichen Venedig im halben Mond umfaßt wird. Über der Wasserfläche sieht man links die Insel St. Giorgio Maggiore, etwas weiter rechts die Giudecca und ihren Kanal, noch weiter rechts die Dogane und die Einfahrt in den Canal Grande, wo uns gleich ein paar ungeheure Marmortempel entgegenleuchten. Dies sind mit wenigen Zügen die Hauptgegenstände, die uns in die Augen fallen, wenn wir zwischen den zwei Säulen des Markusplatzes hervortreten. Die sämtlichen Aus- und Ansichten sind so oft in Kupfer gestochen, daß die Freunde davon sich gar leicht einen anschaulichen Begriff machen können. [...]  
 [* Heute kann man die Bestände der Commons von Wikimedia zu Venedig nach Bildern wie z.B. dies durchforsten.]
Den 6. Oktober.
Auf heute abend hatte ich mir den famosen Gesang der Schiffer bestellt, die den Tasso und Ariost auf ihre eignen Melodien singen. Dieses muß wirklich bestellt werden, es kommt nicht gewöhnlich vor, es gehört vielmehr zu den halb verklungenen Sagen der Vorzeit. Bei Mondenschein bestieg ich eine Gondel, den einen Sänger vorn, den andern hinten; sie fingen ihr Lied an und sangen abwechselnd Vers für Vers. Die Melodie, welche wir durch Rousseau kennen, ist eine Mittelart zwischen Choral und Rezitativ, sie behält immer denselbigen Gang, ohne Takt zu haben; die Modulation ist auch dieselbige, nur verändern sie nach dem Inhalt des Verses mit einer Art von Deklamation sowohl Ton als Maß; der Geist aber, das Leben davon, läßt sich begreifen, wie folgt.
Auf welchem Wege sich die Melodie gemacht hat, will ich nicht untersuchen, genug, sie paßt gar trefflich für einen müßigen Menschen, der sich etwas vormoduliert und Gedichte, die er auswendig kann, solchem Gesang unterschiebt.
Mit einer durchdringenden Stimme - das Volk schätzt Stärke vor allem - sitzt er am Ufer einer Insel, eines Kanals auf einer Barke und läßt sein Lied schallen, so weit er kann. Über den stillen Spiegel verbreitet sich's. In der Ferne vernimmt es ein anderer, der die Melodie kennt, die Worte versteht und mit dem folgenden Verse antwortet; hierauf erwidert der erste, und so ist einer immer das Echo des andern. Der Gesang währt Nächte durch, unterhält sie, ohne zu ermüden. Je ferner sie also voneinander sind, desto reizender kann das Lied werden: wenn der Hörer alsdann zwischen beiden steht, so ist er am rechten Flecke.
Um dieses mich vernehmen zu lassen, stiegen sie am Ufer der Giudecca aus, sie teilten sich am Kanal hin, ich ging zwischen ihnen auf und ab, so daß ich immer den verließ, der zu singen anfangen sollte, und mich demjenigen wieder näherte, der aufgehört hatte. Da ward mir der Sinn des Gesangs erst aufgeschlossen. Als Stimme aus der Ferne klingt es höchst sonderbar, wie eine Klage ohne Trauer; es ist darin etwas unglaublich, bis zu Tränen Rührendes. Ich schrieb es meiner Stimmung zu; aber mein Alter sagte: »È singolare, come quel canto intenerisce, e molto piè, quando è piè ben cantato.« Er wünschte, daß ich die Weiber vom Lido, besonders die von Malamocco und Pelestrina hören möchte, auch diese sängen den Tasso auf gleiche und ähnliche Melodien. Er sagte ferner: »Sie haben die Gewohnheit, wenn ihre Männer aufs Fischen ins Meer sind, sich ans Ufer zu setzen und mit durchdringender Stimme abends diese Gesänge erschallen zu lassen, bis sie auch von ferne die Stimme der Ihrigen vernehmen und sich so mit ihnen unterhalten.« Ist das nicht sehr schön? Und doch läßt sich wohl denken, daß ein Zuhörer in der Nähe wenig Freude an solchen Stimmen haben möchte, die mit den Wellen des Meeres kämpfen. Menschlich aber und wahr wird der Begriff dieses Gesanges, lebendig wird die Melodie, über deren tote Buchstaben wir uns sonst den Kopf zerbrochen haben. Gesang ist es eines Einsamen in die Ferne und Weite, damit ein anderer, Gleichgestimmter höre und antworte."
(J.W.v. Goethe: Italienische Reise, Venedig)

Venedig

Der Markusplatz

Es scheint ein langes, ew'ges Ach zu wohnen
In diesen Lüften, die sich leise regen,
Aus jenen Hallen weht es mir entgegen,
Wo Scherz und Jubel sonst gepflegt zu thronen.
Venedig fiel, wiewohl's getrotzt Äonen,
Das Rad des Glücks kann nichts zurückbewegen:
Öd' ist der Hafen, wen'ge Schiffe legen
Sich an die schöne Riva der Sklavonen.
Platen
Es war Nacht geworden, als wir nach der Visitation endlich die Dogana verlassen durften. Der Ruf: »Una barca! Una gondola!« tönte von allen Seiten an unser Ohr. Wir bestiegen die zunächstliegende Gondel, der Gondolier trat auf seinen Platz hinter dem Häuschen, und der sichere Druck seines Ruders ließ uns lautlos und pfeilgeschwind durch die Lagunen schießen.
Eine Gondel! ein Gondoliere! Welch ein Zauber weht uns an aus diesen Worten! Weich und wollüstig wiegt sich die Seele in den poetischen Bildern einer fernen Zeit, wie das Schiffchen sich schaukelt auf den leise erzitternden Wellen der Kanäle.
Stolze Ritter haben das Schwert von ihren Hüften gegürtet, das Haupt von der eisernen Wucht des Helmes befreit. Unter dem Federbarett erglänzen dunkle Locken, ein schwarzer Domino umhüllt die männliche Gestalt, welche die Prachttreppen hernieder zur Gondel schreitet. Die Gitarre liegt auf den elastischen, schwarzen Polstern, das schwarzverhangene Gondelhäuschen darüber verbirgt wie ein Sarg den Glücklichen, der daraus hervorzugehen hofft zu seliger Freude.
Rasch fliegt das leichte Fahrzeug die Kanäle entlang, fort unter den dunkeln Schauern der Seufzerbrücke, vorüber an dem Lichtgeflimmer der Piazzetta; weiter, immer weiter vorwärts! Der verschwiegene Gondoliere kennt wohl sein fernes Ziel. Er hat's erreicht und hält!
Nicht an der breiten Marmortreppe des Canal Grande, wo vor dem lichtstrahlenden Palast sich Gondel an Gondel um die Befestigungspfähle reiht, welche hell leuchten in den Wappenfarben des Hohen Hauses. Tanzmusik erklingt dort aus prächtigem Saale, eilfertige Dienerschaft fliegt durch Treppen und Hallen, geschmückte Männer und Frauen stehen in den geöffneten Fenstern der Altane, Kühlung einatmend in dem frischen Nachthauch, der herüberweht vom Meere.
Nein! leise und schnell an der Prachttreppe vorüber huscht die Gondel im Schatten der Pilaster zur kleinen Hinterpforte des Palastes am Traghetto (Landeplatz). Die Gitarre erklingt, ein Fenster wird behutsam geöffnet; die Gitarre verstummt. Unhörbar schlüpft ein zarter Frauenfuß über die Quadern, noch ein Moment – und die Liebenden sind vereint, vereint unter der treuen Obhut des schweigenden Gondoliers.
Oh! welches Glück, hinauszurudern, ungesehen, unbelauscht, durch die weiten Kanäle, in herzigster Einsamkeit, Auge in Auge versenkt, Lippe an Lippe gepreßt! gewiegt von dem schwankenden Kahn in süßeste Träume, ohne Geräusch, ohne den störenden Laut von außen, so still, daß das leiseste Flüstern, daß der zaghafteste Seufzer widerklingt in der Brust des Geliebten! hinaus in die ruhenden, mondbeglänzten Fluten des Adriatischen Meeres, dem einst die Venus entstieg, die schöne Göttin der Liebe.
Gewiß! gibt es ein Paradies, ein Eden der Liebe: in einer Gondel gelangt man dahin!
Doch »Venedig lebt nur noch im Reich der Träume«! – Keine Siegesfanfaren erklingen jetzt in den Hallen der alten Dogengeschlechter, kaum ein Zitherklang unter den Fenstern schöner Frauen. Schweigend heben sich die Prachtpaläste aus den Fluten empor, welche leise anplätschern gegen die Stufen der Marmortreppen. Nur hie und da erglänzt aus hohem Gemach der Schimmer von Lichten, nur bisweilen tritt aus der Halle eines Palastes eine Gestalt hervor, steigt die Treppe hinab und verschwindet in der Gondel, welche sie lautlos entführt.
Nie habe ich auch nur in annähernder Ahnung die Vorstellung der Stille gehabt, welche uns in Venedig umgibt. Unser Ohr ist so sehr des Durcheinanderklingens von Menschentritten, Wagengerassel und Rossestampfen gewohnt, daß wir es erst dann als ein Auffallendes empfinden, wenn es einmal einen ungemeinen Grad erreicht hat. Wirkliche Ruhe, wirkliche Stille kennen wir in unsern Städten nicht. All unsere Vorstellungen davon sind bedingt. Wenn uns nun hier mitten in einer großen Stadt, mitten auf den Kanälen Venedigs vollkommene Stille umgibt, so glauben wir zu träumen, und alte Märchen von der schweigenden Königsburg, von dem schönen, im Meere versunkenen Vineta tauchen vor unserm Geiste auf, bis die Gondel uns an die Stufen der Piazzetta führt und neue Zauberbilder uns zu umgaukeln scheinen.
Es ist Nacht. Bleiches Mondlicht strahlt matt durch die Wolkenvorhänge, welche der leise Wind langsam hinwegweht, die Sterne schauen verstohlen hervor, die Wogen des Meeres ruhen, die Gondel landet an den breiten Stufen. Zwischen den beiden schönen Säulen der Piazzetta steigt man an das Ufer. Der geflügelte Löwe von San Marco und der heilige Georg, welche die Säulen schmücken, wachen über Venedig und schützen unsern Eintritt.
Ein orientalisches Gebäude liegt zu unserer Rechten. Über byzantinisch gezierten, niedrigen Säulen, welche die Bogen tragen, erhebt sich das obere Stockwerk in ganz befremdlicher Form. Die rötlich gebrannten Ziegel verschlingen sich zu geheimnisvollen Arabesken, wunderbare Gebilde ragen aus dem Marmorzierat hervor. Die hohen Fenster beherrschen den Platz und das Meer, aber sie sind von keinem Lichte erhellt, das Haus ruht im Schweigen der Nacht.
Schlummert darin die arabische Fürstin, die Abencerragen-Geliebte, welche ein neidischer Zauberer entführte? Wachen Genien darin und flüstern ihr süße Träume ins Ohr vom fernen Geliebten, der sie ersehnt in den Fontänensälen der Alhambra? – Oder ist es ein Tempel geheimnisvoller Brüderschaft, welche dem strebsamen Neophyten die Offenbarung eines unsichtbaren Gottes in mystischen Zeichen enthüllt? Wir stehen davor in staunender Betrachtung, denn – Venedigs Dogenpalast hat nicht seinesgleichen im ganzen Abendlande.
Es ist der Zauber des Orientes, der uns umweht. Wir hören Kaskaden rauschen, wir hören Palmblätter fächeln über den Polstern, auf denen die Sultanin ruht. Aufgelöst ist ihr schwarzes, flutendes Haar, das herniedersinkt über die juwelengeschmückte Brust, über die feine Hand bis hinab zu den nackten, spangenumgebenen Füßen, welche auf den golddurchwirkten Kissen ruhen. Papageien wiegen sich in goldenen Ringen, goldene Fischchen glitzern im Marmorbassin – da – erblickt man die prachtvolle Treppe – die Riesentreppe des Dogenpalastes, und – Marino Falieros schwarzes Leichentuch fällt über die lachenden Bilder des Orients.
Wir wenden unser Auge! Das Lichtgeflimmer der Läden unter den alten und neuen Prokurazien erglänzt, die Uhr in dem Uhrhause zeigt, unter dem Gold- und Ultramarinschmuck der Fassade, die zehnte Stunde. Noch ein Schritt vorwärts, und wir stehen auf den Quadern des Markusplatzes.
(Fanny Lewald: Italienisches Bilderbuch, Venedig)

"Die ganze Welt der Erscheinungen ist nicht dazu da, um Malern und Poeten wünschenswerte und bequem liegende Stoffe zu bieten, sondern um überhaupt zu befriedigen und zu erfreun. Das Leben stellt vielfach andere Forderungen als die Kunst, und Individuen die Staaten gehen zu Grunde, die dies übersehen. Wem diese Wahrheit zu Fleisch und Blut geworden ist, der wird auf Venedig blicken wie ich noch in der letzten Stunde auf ein wunderschönes Frauenzimmer blickte, die aus dem zweiten Stock eines halbverfallenen Hauses träumerisch-faul  mit tief und dumm schmachtendem Auge uns nachsau, als unsere Gondel an den Wasserstiegen des schmalen Kanals vorüber fuhr. Sie war so schön, wie ich selten Weiber gesehen habe und das halbgekräuselte schwarze Haar lag wie eine Mähne um sie her, mit den Spitzen nach vorn hin und über die halb entblößte Brust fallend; ich werde den Anblick nie vergessen. Aber sie war ungewaschen und ungekämmt, und nach meinem Gefühl, so wenig sie persönlich innerhalb der idealen Liebe zu stehen schien, doch nur für eine solche geeignet. Ein Wesen, nur mit dem Auge zu genießen; mit ihr zu leben – ein Gedanke nicht ausgedacht zu werden! So auch die Stadt selbst. Diese schöne, schwarzhaarige Schwester Struwelpeters, die seifenintakt auf einen gondelbefahrenen Rinnstein niedersah, war mir wie das Bild Venezias als selbst erschienen.
Eine glänzende Ausnahme macht der Markusplatz und die an ihn grenzende Piazzetta. [...]"

(Theodor Fontane an Karl und Emilie Zöllner, 10.10. 1874)

"Militärmusik erklingt. Vor der Markuskirche ragen die drei roten Mastbäume auf erzenem Sockel empor, die Trophäen Venedigs nach Eroberung der Inseln Morea, Candia und Zypern. Schiffer in dalmatischer Tracht, Landleute von den Inseln und Matrosen aus den freien Staaten Nordamerikas lagern zu ihren Füßen.

Kaffeehäuser und Luxusmagazine, wohin man blickt. Die mit Hallen überbauten Erdgeschosse sämtlicher Gebäude, welche von drei Seiten den Markusplatz umschließen, sind davon erfüllt. Der Markusplatz gleicht einem riesigen Opernsaale, und auch das Geräusch der wogenden Menge, von keinem Wagengerassel, von keinem Pferdetritt untermischt, bringt den Laut hervor, der bei einem großen, fröhlichen Feste uns aus den Sälen entgegentönt.
Der Markusplatz zeigt uns die italienische Geselligkeit und das italienische Volksleben im Freien in einem Bilde – und doch ist Venedig nicht mehr das eigentliche, südliche Italien. Venedig ist ein besonderes, liebliches Wunder, ein geheimnisvolles Rätsel, eine stolze Ruine, vom Zauber der Vergangenheit umzittert; Venedig ist ein frei gebornes, poetisches Weib unter der lastenden Herrschaft eines aufgedrungenen Gebieters; Venedig ist unvergänglich schön und doch schon Beute des Verfalles – und weil es das alles ist, ist's eben das zauberhafte, traumselige, phantastische Venedig und unvergleichlich.
Auf dem Markusplatze reihen sich Stühle an Stühle. Kellner eilen von einem zum andern, Eisgläser, Kaffeetassen und Sorbetti zu präsentieren. Knaben bieten in zierlichen Körben kandierte Früchte feil, preisen uns Muschelkästchen, Korallenspielereien, Fächer und Glasperlenschmuck zum Kaufe an, in weichem, lieblichem Dialekt. Am Arme der Männer wandeln die geschmückten Frauen auf und nieder; bedächtige Perser, schöne armenische Greise und flammende junge Griechen liegen in den offenen Sälen der Cafés oder auf den Stühlen im Freien hingestreckt und folgen, die lange Pfeife im Munde, mit den dunkeln, brennenden Augen den schlanken Frauengestalten, welche sich hier, mitten in der Nacht, mitten unter fremden Männern, fessellos bewegen.
Dort stehen östreichische Offiziere, den Stock, die Prügelwaffe, von der eingeschnürten Taille herabhängend, ein schmachvolles Ehrenzeichen; hier erglänzen Goldstücke in dem Laden eines Wechslers, und Schiffskapitäne schließen Kontrakte für die Fahrt. Bisweilen, aber selten im Vergleich zu Rom und Neapel, huscht noch ein verspäteter Mönch unter den Prokurazien dahin. Hat er Trost gebracht am Lager oder in der Hütte der Leidenden, wie fremd muß die Fröhlichkeit des Markusplatzes seine Seele berühren; hat er vom verbotenen Becher des Lebens gekostet, wie melancholisch mag das Bild des düstern Klosters ihm scheinen; wie glücklich der Weltgeistliche, der hier unter warmem Himmel frei und lächelnd das Lachen auf schönen Lippen, in blitzenden Augen erweckt.
Aus den Fenstern der Gebäude sehen wie aus den Logen eines Theaters Männer und Frauen hinab, deren Gestalten sich formenschön hervorheben auf dem Lichthintergrunde der Zimmer. Der ganze Markusplatz ist voll Menschen, wohin das Auge sich wendet; Musik umtauscht uns, man wandert fort und fort, man schwatzt, man lacht bei ihrem Klange, ob auch Stunde um Stunde versinkt und der Zeiger am Uhrhause unaufhaltsam vorrückt, man genießt, man lebt das Leben.
Es ist nach Mitternacht geworden! Der Mond ist hinabgesunken ins Meer, die Gruppen auf dem Markusplatze fangen an, sich zu lichten, man geht freier umher, die Wärme, welche die Masse hier ausströmte, wird geringer, der frische Lufthauch vom Meere macht sich fühlbar, die Gasflammen fangen an, unruhiger zu flackern. Nun erst übersieht man die Größe und Schönheit des Raumes. Man tritt an das äußerste Ende des Platzes, ihn besser zu betrachten.
Schlank und stolz hebt sich von den Quadern wie eine Riesensäule der Markusturm empor, frei und selbständig, nicht an eine Kirche, nicht an einen Palast gestützt, ein Bild der selbständigen Republik. Dahinter erglänzt es in strahlendem Goldglanz. Reich wie eine Moschee ist die Markuskirche geschmückt in aller Pracht byzantinischen Stils, und mitten aus den runden Bogen des Orients, aus ihren kioskartigen Spitzen und Wölbungen, mitten aus dem Goldlicht der Mosaiken leuchtet über das unruhige Lebensgetümmel des Markusplatzes ein ruhig Bild, beruhigend und erhebend, vom Hauptportal der Markuskirche durch die Nacht – das Bild des triumphierenden Christus, der sich aufschwingt von der Erde zum Himmel."
(Fanny Lewald: Italienisches Bilderbuch, Venedig)
"Von der Piazzetta, die sich nach dem Meere so lieblich eröffnet, von dem schönen Kai, der Riva degli Schiavoni, sah ich immer mit tiefer Sehnsucht hinüber nach dem Lido, den Eugen Beauharnais in einen schönen, öffentlichen Garten umgeschaffen hat. Ein Plätzchen neben einer Schifferherberge auf der Insel Giudecca, auf dem wir eines Tages unser Frühstück verzehrten, erschien mir wie ein Paradies, weil ein paar Bäume ihre Äste über unsern Tisch zur Laube wölbten und Bohnen und Kürbis sich an den Gitterzäunen emporrankten.

Den vollen Eindruck der absonderlichen Existenz in Venedig bekommt man aber erst, wenn man, den Canal Grande verlassend, in die Seitenkanäle einbiegt und nun überall neue Wasserstraßen erblickt.

Ich fuhr eines Morgens nach der Wohnung meines Bankier. Der Gondolier führte uns durch immer engere Gäßchen; nichts als Wasser und Mauern; nur hie und da ein Mensch an den schmalen Kais, nur dann und wann der Zuruf eines Gondolier aus einem Nebenkanal, seine Ankunft verkündend, um den Zusammenstoß mit andern Gondeln zu vermeiden, was bei der Länge der Fahrzeuge auf den engen Kanälen ohne dies Anrufen unvermeidlich wäre. Endlich hielten wir vor einem stattlichen Hause. Aus der Gondel langte der Gondolier nach dem Klingelzuge. Man öffnete. Das Wasser stand damals hoch und war noch höher gewesen; die ganze Treppe im Innern der Pforte war davon überschwemmt. Eine kleine Brücke, die wir überschreiten mußten, lag schräg von den ersten Stufen nach dem Hofe; aber der ganze Hof selbst war naß, das Wasser hatte Schlamm und Kehricht dort zurückgelassen, ein feuchter Dampf stieg im Sonnenschein davon empor. Und als ich nun oben diesen Bankier in Haufen Goldes wühlen sah, über Kapitalien gebietend, die ihm jeden käuflichen Genuß möglich machten, da mußte ich mich staunend fragen, was hält die Menschen in dieser widernatürlichen Existenz gefesselt, die jetzt nicht mehr ein Asyl der Freiheit ist? Was bannt sie in diese Sümpfe, während in Rom und Neapel die Erde sich neubelebt im frischeren Hauche des Herbstes?

Venedig ist ein poetisches Wunder, an dem sich die Phantasie für einige Zeit mit Freude ergötzt, aber ich wiederhole es, es ist kein Aufenthalt, den ich für längere Zeit ertragen oder erwählen würde, so vielfach man mir Venedig grade in diesem Sinne angepriesen hatte.

Bedurfte ein Volk der bildenden Künste, die Seele zu erheitern, so waren es die Venezianer. Die Kunst mußte ihnen zum einzigen Troste werden, ihre Seele mußte sich leidenschaftlich derselben zuwenden, und es ist natürlich, daß sie Stadt und Wohnungen zu schmücken strebten, als Ersatz für den Mangel an schöner Natur.

Zu der Kunst, zu der großen Vergangenheit Venedigs flüchtet man sich; in ihr lebt der Fremde den Tag hindurch, bis abends sich die Gasflammen auf dem Markusplatze und der Piazzetta entzünden und die süßen, gaukelnden Märchen uns wieder einspinnen in bunte, phantastische Bilder.

Nirgends sonst greifen Kunst und Geschichte so unauflöslich fest und enge ineinander als in Venedig. Der Dogenpalast, die Prokurazien, der Markusturm, die Piazzetta, die Löwen vom Piräus, welche den Eingang des Arsenales zieren, alle diese Denkmale von der tatkräftigen Vergangenheit der Republik, wir finden sie wieder in den Bildern, mit welchen die Säle jener Gebäude geschmückt sind. Die Helden, deren Taten von Meisterhand an den Wänden des großen Rates gemalt sind, landen auf den Bildern mit ihren Galeeren unter den Fenstern eben dieses Dogenpalastes. Venedigs Künstler brauchten nicht in eine ferne Vorzeit zu greifen, um Motive zu finden. Die Republik, deren Bürger sie waren, bot ihnen in ihren Siegen den Stoff; schöne Frauen wandelten in Fülle auf den Quadern des Markusplatzes einher; das Gefühl der Freiheit, der Selbstherrschaft prägte jeden Bürger, wie die alten Porträts es beweisen, zu schöner, männlicher Individualität aus; man malte die Gegenwart, deren Dank man empfing, zum Fortleben in der Nachwelt.

Diesem Zusammenwirken entsprangen denn auch die lebensfrischen Schöpfungen eines Tizian, eines Veronese, Piombo und anderer, die das kräftige Lebenselement selbst in die Schilderungen des Jenseitigen übertrugen. Sie stehen dadurch, dünkt mich, in der Auffassung biblischer Gegenstände unserer Zeit viel näher als selbst Raffael und die andern ältern Meister, welche spiritualistischer zu Werke gegangen sind als jene.

Raffael, im Dienste der Kirche malend, strebte in der Darstellung von biblischen Motiven des Neuen Testamentes nach dem Übersinnlichen, Unirdischen, nach dem Mythischen; er entsinnlichte das Körperliche, der Askese des Christentums zu Ehren. Die Venezianer hingegen, gewohnt, zu Ehren des freien Vaterlandes tüchtige Menschen zu malen, inmitten eines politisch und merkantilisch reichen Lebens, behielten beständig die Wirklichkeit als gesunden Boden und stellten, was naturgemäß ist, das Übersinnliche sinnlich dar.

In diesem Geiste hat Tizian eine Himmelfahrt Christi, Veronese eine Verkündigung gemalt, die mir einen unauslöschlichen Eindruck gemacht haben, während sonst der Verstand sich gegen das Wunder empört, das in der bildlichen Darstellung uns seine physische Unmöglichkeit aufdringt.

Jener Christus trägt das Gepräge urkräftigster, männlicher Begeisterung in sich, welche aus sich selbst heraus Wunder zu wirken vermag. Er ist das Symbol des Geistes, der sich über die Erde erhebt, und der ihm innewohnende Gott hat wundertätige Willenskraft.

Christus ist abgeschlossen in sich. Die linke Hand zeigt nach der Erde, auf der er sein Werk vollendet hat; die rechte hebt sich zum Himmel, von jener Willenskraft des Geistes beseelt, die das Unmögliche möglich macht. Er glaubt an die Kraft seiner Seele, er will sie benutzen, zum Lichte empor zu dringen; und dem riesigen Wollen gehorsam, hebt ihn der Geist empor. Nur die Spitze des rechten Fußes berührt noch die Erde, nur noch scheinbar gehört er dem Irdischen an, und schon – eben nur dem herabziehenden Gesetz der Schwere entrückt – bemächtigt die Luft sich seiner weiten, weißen Gewänder, und das reine Element trägt ihn empor über die Atmosphäre der Erde zum Äther, zum Licht. Der Geist des Menschen und das Element der Natur wirken in Übereinstimmung das Wunder. Das ist schön und wahr zugleich.

Ebenso tief ist Veroneses Verkündigung, ein Gegenstand, an dem seines Mysteriums wegen die Mehrzahl der Maler gescheitert ist. Die alten Meister, wie Fiesole, finden sich noch am besten darin zurecht. Der blonde Engel mit dem Lilienzweig, die Jungfrau mit den gesenkten Augenlidern knien sich in bewußtloser Unschuld und Demut gegenüber und sehen gewöhnlich beide ziemlich nichtssagend aus; die Jungfrau sogar oftmals ganz verwundert. Aber die Unschuld soll, wie Hebbel das so schön ausdrückt, an der Liebe sterben! Sie soll sterben, nicht verwundert in Resignation versinken.

Der gesunde Veronese rettete sich vor dem Wunder in die Allegorie und schuf ein Bild, das jedem fühlenden Menschen das Herz bewegt. In gewaltiger, räumlicher Architektur, in einer großen, offnen Halle richtet sich die kniende Jungfrau vor ihrem Betpulte empor, da in der äußersten Linken des Bildes ihr der Engel der Verkündigung erscheint. Der Engel blickt sie ruhig an, ihr Gesicht ist von aufzuckender Seligkeit überstrahlt; die heilige Ahnung des Mutterglückes kommt über sie, und nicht absichtslos steht der Engel der Verkündigung so fern von der Jungfrau, die noch eine lange Zeit banger Hoffnung von der Erfüllung trennt. Es ist eines der einfachsten Bilder, das man denken kann, und doch so tief ergreifend, weil das biblische Wunder zurückübersetzt ist in das heilige Wunder der Natur.

(Fanny Lewald: Italienisches Bilderbuch, Venedig Tageslicht)


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