Venedig (Wikipedia)
"So stand es denn im Buche des Schicksals auf meinem Blatte geschrieben, daß ich 1786 den achtundzwanzigsten September, abends, nach unserer Uhr um fünfe, Venedig zum erstenmal, aus der Brenta in die Lagunen einfahrend, erblicken und bald darauf diese wunderbare Inselstadt, diese Biberrepublik betreten und besuchen sollte. So ist denn auch, Gott sei Dank, Venedig mir kein bloßes Wort mehr, kein hohler Name, der mich so oft, mich, den Todfeind von Wortschällen, geängstiget hat.
Als die erste Gondel an das Schiff anfuhr (es geschieht, um Passagiere, welche Eil' haben, geschwinder nach Venedig zu bringen), erinnerte ich mich eines frühen Kinderspielzeuges, an das ich vielleicht seit zwanzig Jahren nicht mehr gedacht hatte. Mein Vater besaß ein schönes mitgebrachtes Gondelmodell; er hielt es sehr wert, und mir ward es hoch angerechnet, wenn ich einmal damit spielen durfte. Die ersten Schnäbel von blankem Eisenblech, die schwarzen Gondelkäfige, alles grüßte mich wie eine alte Bekanntschaft, ich genoß einen langentbehrten freundlichen Jugendeindruck. [...]
Den 29sten, Michaelistag, abends.
Von Venedig ist schon viel erzählt und gedruckt, daß ich mit Beschreibung nicht umständlich sein will, ich sage nur, wie es mir entgegenkommt. Was sich mir aber vor allem andern aufdringt, ist abermals das Volk, eine große Masse, ein notwendiges, unwillkürliches Dasein.
Dies Geschlecht hat sich nicht zum Spaß auf diese Inseln geflüchtet, es war keine Willkür, welche die Folgenden trieb, sich mit ihnen zu vereinigen; die Not lehrte sie ihre Sicherheit in der unvorteilhaftesten Lage suchen, die ihnen nachher so vorteilhaft ward und sie klug machte, als noch die ganze nördliche Welt im Düstern gefangen lag; ihre Vermehrung, ihr Reichtum war notwendige Folge. Nun drängten sich die Wohnungen enger und enger, Sand und Sumpf wurden durch Felsen ersetzt, die Häuser suchten die Luft, wie Bäume, die geschlossen stehen, sie mußten an Höhe zu gewinnen suchen, was ihnen an Breite abging. Auf jede Spanne des Bodens geizig und gleich anfangs in enge Räume gedrängt, ließen sie zu Gassen nicht mehr Breite, als nötig war, eine Hausreihe von der gegenüberstehenden zu trennen und dem Bürger notdürftige Durchgänge zu erhalten. Übrigens war ihnen das Wasser statt Straße, Platz und Spaziergang. Der Venezianer mußte eine neue Art von Geschöpf werden, wie man denn auch Venedig nur mit sich selbst vergleichen kann. Der große, schlangenförmig gewundene Kanal weicht keiner Straße in der Welt, dem Raum vor dem Markusplatze kann wohl nichts an die Seite gesetzt werden. Ich meine den großen Wasserspiegel, der diesseits von dem eigentlichen Venedig im halben Mond umfaßt wird. Über der Wasserfläche sieht man links die Insel St. Giorgio Maggiore, etwas weiter rechts die Giudecca und ihren Kanal, noch weiter rechts die Dogane und die Einfahrt in den Canal Grande, wo uns gleich ein paar ungeheure Marmortempel entgegenleuchten. Dies sind mit wenigen Zügen die Hauptgegenstände, die uns in die Augen fallen, wenn wir zwischen den zwei Säulen des Markusplatzes hervortreten. Die sämtlichen Aus- und Ansichten sind so oft in Kupfer gestochen, daß die Freunde davon sich gar leicht einen anschaulichen Begriff machen können. [...]
[* Heute kann man die Bestände der Commons von Wikimedia zu Venedig nach Bildern wie z.B. dies durchforsten.]
Den 6. Oktober.
Auf heute abend hatte ich mir den famosen Gesang der Schiffer bestellt, die den Tasso und Ariost auf ihre eignen Melodien singen. Dieses muß wirklich bestellt werden, es kommt nicht gewöhnlich vor, es gehört vielmehr zu den halb verklungenen Sagen der Vorzeit. Bei Mondenschein bestieg ich eine Gondel, den einen Sänger vorn, den andern hinten; sie fingen ihr Lied an und sangen abwechselnd Vers für Vers. Die Melodie, welche wir durch Rousseau kennen, ist eine Mittelart zwischen Choral und Rezitativ, sie behält immer denselbigen Gang, ohne Takt zu haben; die Modulation ist auch dieselbige, nur verändern sie nach dem Inhalt des Verses mit einer Art von Deklamation sowohl Ton als Maß; der Geist aber, das Leben davon, läßt sich begreifen, wie folgt.
Auf welchem Wege sich die Melodie gemacht hat, will ich nicht untersuchen, genug, sie paßt gar trefflich für einen müßigen Menschen, der sich etwas vormoduliert und Gedichte, die er auswendig kann, solchem Gesang unterschiebt.
Mit einer durchdringenden Stimme - das Volk schätzt Stärke vor allem - sitzt er am Ufer einer Insel, eines Kanals auf einer Barke und läßt sein Lied schallen, so weit er kann. Über den stillen Spiegel verbreitet sich's. In der Ferne vernimmt es ein anderer, der die Melodie kennt, die Worte versteht und mit dem folgenden Verse antwortet; hierauf erwidert der erste, und so ist einer immer das Echo des andern. Der Gesang währt Nächte durch, unterhält sie, ohne zu ermüden. Je ferner sie also voneinander sind, desto reizender kann das Lied werden: wenn der Hörer alsdann zwischen beiden steht, so ist er am rechten Flecke.
Um dieses mich vernehmen zu lassen, stiegen sie am Ufer der Giudecca aus, sie teilten sich am Kanal hin, ich ging zwischen ihnen auf und ab, so daß ich immer den verließ, der zu singen anfangen sollte, und mich demjenigen wieder näherte, der aufgehört hatte. Da ward mir der Sinn des Gesangs erst aufgeschlossen. Als Stimme aus der Ferne klingt es höchst sonderbar, wie eine Klage ohne Trauer; es ist darin etwas unglaublich, bis zu Tränen Rührendes. Ich schrieb es meiner Stimmung zu; aber mein Alter sagte: »È singolare, come quel canto intenerisce, e molto piè, quando è piè ben cantato.« Er wünschte, daß ich die Weiber vom Lido, besonders die von Malamocco und Pelestrina hören möchte, auch diese sängen den Tasso auf gleiche und ähnliche Melodien. Er sagte ferner: »Sie haben die Gewohnheit, wenn ihre Männer aufs Fischen ins Meer sind, sich ans Ufer zu setzen und mit durchdringender Stimme abends diese Gesänge erschallen zu lassen, bis sie auch von ferne die Stimme der Ihrigen vernehmen und sich so mit ihnen unterhalten.« Ist das nicht sehr schön? Und doch läßt sich wohl denken, daß ein Zuhörer in der Nähe wenig Freude an solchen Stimmen haben möchte, die mit den Wellen des Meeres kämpfen. Menschlich aber und wahr wird der Begriff dieses Gesanges, lebendig wird die Melodie, über deren tote Buchstaben wir uns sonst den Kopf zerbrochen haben. Gesang ist es eines Einsamen in die Ferne und Weite, damit ein anderer, Gleichgestimmter höre und antworte."
(J.W.v. Goethe: Italienische Reise, Venedig)
[* Heute kann man die Bestände der Commons von Wikimedia zu Venedig nach Bildern wie z.B. dies durchforsten.]
Venedig
Der Markusplatz
Es scheint ein langes, ew'ges Ach zu wohnen In diesen Lüften, die sich leise regen, Aus jenen Hallen weht es mir entgegen, Wo Scherz und Jubel sonst gepflegt zu thronen. |
Venedig fiel, wiewohl's getrotzt Äonen, Das Rad des Glücks kann nichts zurückbewegen: Öd' ist der Hafen, wen'ge Schiffe legen Sich an die schöne Riva der Sklavonen. |
Platen |
"Die ganze Welt der Erscheinungen ist nicht dazu da, um Malern und Poeten wünschenswerte und bequem liegende Stoffe zu bieten, sondern um überhaupt zu befriedigen und zu erfreun. Das Leben stellt vielfach andere Forderungen als die Kunst, und Individuen die Staaten gehen zu Grunde, die dies übersehen. Wem diese Wahrheit zu Fleisch und Blut geworden ist, der wird auf Venedig blicken wie ich noch in der letzten Stunde auf ein wunderschönes Frauenzimmer blickte, die aus dem zweiten Stock eines halbverfallenen Hauses träumerisch-faul mit tief und dumm schmachtendem Auge uns nachsau, als unsere Gondel an den Wasserstiegen des schmalen Kanals vorüber fuhr. Sie war so schön, wie ich selten Weiber gesehen habe und das halbgekräuselte schwarze Haar lag wie eine Mähne um sie her, mit den Spitzen nach vorn hin und über die halb entblößte Brust fallend; ich werde den Anblick nie vergessen. Aber sie war ungewaschen und ungekämmt, und nach meinem Gefühl, so wenig sie persönlich innerhalb der idealen Liebe zu stehen schien, doch nur für eine solche geeignet. Ein Wesen, nur mit dem Auge zu genießen; mit ihr zu leben – ein Gedanke nicht ausgedacht zu werden! So auch die Stadt selbst. Diese schöne, schwarzhaarige Schwester Struwelpeters, die seifenintakt auf einen gondelbefahrenen Rinnstein niedersah, war mir wie das Bild Venezias als selbst erschienen.
Eine glänzende Ausnahme macht der Markusplatz und die an ihn grenzende Piazzetta. [...]"
(Theodor Fontane an Karl und Emilie Zöllner, 10.10. 1874)
"Militärmusik erklingt. Vor der Markuskirche ragen die drei roten Mastbäume auf erzenem Sockel empor, die Trophäen Venedigs nach Eroberung der Inseln Morea, Candia und Zypern. Schiffer in dalmatischer Tracht, Landleute von den Inseln und Matrosen aus den freien Staaten Nordamerikas lagern zu ihren Füßen.
Den vollen Eindruck der absonderlichen Existenz in Venedig bekommt man aber erst, wenn man, den Canal Grande verlassend, in die Seitenkanäle einbiegt und nun überall neue Wasserstraßen erblickt.
Ich fuhr eines Morgens nach der Wohnung meines Bankier. Der Gondolier führte uns durch immer engere Gäßchen; nichts als Wasser und Mauern; nur hie und da ein Mensch an den schmalen Kais, nur dann und wann der Zuruf eines Gondolier aus einem Nebenkanal, seine Ankunft verkündend, um den Zusammenstoß mit andern Gondeln zu vermeiden, was bei der Länge der Fahrzeuge auf den engen Kanälen ohne dies Anrufen unvermeidlich wäre. Endlich hielten wir vor einem stattlichen Hause. Aus der Gondel langte der Gondolier nach dem Klingelzuge. Man öffnete. Das Wasser stand damals hoch und war noch höher gewesen; die ganze Treppe im Innern der Pforte war davon überschwemmt. Eine kleine Brücke, die wir überschreiten mußten, lag schräg von den ersten Stufen nach dem Hofe; aber der ganze Hof selbst war naß, das Wasser hatte Schlamm und Kehricht dort zurückgelassen, ein feuchter Dampf stieg im Sonnenschein davon empor. Und als ich nun oben diesen Bankier in Haufen Goldes wühlen sah, über Kapitalien gebietend, die ihm jeden käuflichen Genuß möglich machten, da mußte ich mich staunend fragen, was hält die Menschen in dieser widernatürlichen Existenz gefesselt, die jetzt nicht mehr ein Asyl der Freiheit ist? Was bannt sie in diese Sümpfe, während in Rom und Neapel die Erde sich neubelebt im frischeren Hauche des Herbstes?
Venedig ist ein poetisches Wunder, an dem sich die Phantasie für einige Zeit mit Freude ergötzt, aber ich wiederhole es, es ist kein Aufenthalt, den ich für längere Zeit ertragen oder erwählen würde, so vielfach man mir Venedig grade in diesem Sinne angepriesen hatte.
Bedurfte ein Volk der bildenden Künste, die Seele zu erheitern, so waren es die Venezianer. Die Kunst mußte ihnen zum einzigen Troste werden, ihre Seele mußte sich leidenschaftlich derselben zuwenden, und es ist natürlich, daß sie Stadt und Wohnungen zu schmücken strebten, als Ersatz für den Mangel an schöner Natur.
Zu der Kunst, zu der großen Vergangenheit Venedigs flüchtet man sich; in ihr lebt der Fremde den Tag hindurch, bis abends sich die Gasflammen auf dem Markusplatze und der Piazzetta entzünden und die süßen, gaukelnden Märchen uns wieder einspinnen in bunte, phantastische Bilder.
Nirgends sonst greifen Kunst und Geschichte so unauflöslich fest und enge ineinander als in Venedig. Der Dogenpalast, die Prokurazien, der Markusturm, die Piazzetta, die Löwen vom Piräus, welche den Eingang des Arsenales zieren, alle diese Denkmale von der tatkräftigen Vergangenheit der Republik, wir finden sie wieder in den Bildern, mit welchen die Säle jener Gebäude geschmückt sind. Die Helden, deren Taten von Meisterhand an den Wänden des großen Rates gemalt sind, landen auf den Bildern mit ihren Galeeren unter den Fenstern eben dieses Dogenpalastes. Venedigs Künstler brauchten nicht in eine ferne Vorzeit zu greifen, um Motive zu finden. Die Republik, deren Bürger sie waren, bot ihnen in ihren Siegen den Stoff; schöne Frauen wandelten in Fülle auf den Quadern des Markusplatzes einher; das Gefühl der Freiheit, der Selbstherrschaft prägte jeden Bürger, wie die alten Porträts es beweisen, zu schöner, männlicher Individualität aus; man malte die Gegenwart, deren Dank man empfing, zum Fortleben in der Nachwelt.
Diesem Zusammenwirken entsprangen denn auch die lebensfrischen Schöpfungen eines Tizian, eines Veronese, Piombo und anderer, die das kräftige Lebenselement selbst in die Schilderungen des Jenseitigen übertrugen. Sie stehen dadurch, dünkt mich, in der Auffassung biblischer Gegenstände unserer Zeit viel näher als selbst Raffael und die andern ältern Meister, welche spiritualistischer zu Werke gegangen sind als jene.
Raffael, im Dienste der Kirche malend, strebte in der Darstellung von biblischen Motiven des Neuen Testamentes nach dem Übersinnlichen, Unirdischen, nach dem Mythischen; er entsinnlichte das Körperliche, der Askese des Christentums zu Ehren. Die Venezianer hingegen, gewohnt, zu Ehren des freien Vaterlandes tüchtige Menschen zu malen, inmitten eines politisch und merkantilisch reichen Lebens, behielten beständig die Wirklichkeit als gesunden Boden und stellten, was naturgemäß ist, das Übersinnliche sinnlich dar.
In diesem Geiste hat Tizian eine Himmelfahrt Christi, Veronese eine Verkündigung gemalt, die mir einen unauslöschlichen Eindruck gemacht haben, während sonst der Verstand sich gegen das Wunder empört, das in der bildlichen Darstellung uns seine physische Unmöglichkeit aufdringt.
Jener Christus trägt das Gepräge urkräftigster, männlicher Begeisterung in sich, welche aus sich selbst heraus Wunder zu wirken vermag. Er ist das Symbol des Geistes, der sich über die Erde erhebt, und der ihm innewohnende Gott hat wundertätige Willenskraft.
Christus ist abgeschlossen in sich. Die linke Hand zeigt nach der Erde, auf der er sein Werk vollendet hat; die rechte hebt sich zum Himmel, von jener Willenskraft des Geistes beseelt, die das Unmögliche möglich macht. Er glaubt an die Kraft seiner Seele, er will sie benutzen, zum Lichte empor zu dringen; und dem riesigen Wollen gehorsam, hebt ihn der Geist empor. Nur die Spitze des rechten Fußes berührt noch die Erde, nur noch scheinbar gehört er dem Irdischen an, und schon – eben nur dem herabziehenden Gesetz der Schwere entrückt – bemächtigt die Luft sich seiner weiten, weißen Gewänder, und das reine Element trägt ihn empor über die Atmosphäre der Erde zum Äther, zum Licht. Der Geist des Menschen und das Element der Natur wirken in Übereinstimmung das Wunder. Das ist schön und wahr zugleich.
Ebenso tief ist Veroneses Verkündigung, ein Gegenstand, an dem seines Mysteriums wegen die Mehrzahl der Maler gescheitert ist. Die alten Meister, wie Fiesole, finden sich noch am besten darin zurecht. Der blonde Engel mit dem Lilienzweig, die Jungfrau mit den gesenkten Augenlidern knien sich in bewußtloser Unschuld und Demut gegenüber und sehen gewöhnlich beide ziemlich nichtssagend aus; die Jungfrau sogar oftmals ganz verwundert. Aber die Unschuld soll, wie Hebbel das so schön ausdrückt, an der Liebe sterben! Sie soll sterben, nicht verwundert in Resignation versinken.
Der gesunde Veronese rettete sich vor dem Wunder in die Allegorie und schuf ein Bild, das jedem fühlenden Menschen das Herz bewegt. In gewaltiger, räumlicher Architektur, in einer großen, offnen Halle richtet sich die kniende Jungfrau vor ihrem Betpulte empor, da in der äußersten Linken des Bildes ihr der Engel der Verkündigung erscheint. Der Engel blickt sie ruhig an, ihr Gesicht ist von aufzuckender Seligkeit überstrahlt; die heilige Ahnung des Mutterglückes kommt über sie, und nicht absichtslos steht der Engel der Verkündigung so fern von der Jungfrau, die noch eine lange Zeit banger Hoffnung von der Erfüllung trennt. Es ist eines der einfachsten Bilder, das man denken kann, und doch so tief ergreifend, weil das biblische Wunder zurückübersetzt ist in das heilige Wunder der Natur.
(Fanny Lewald: Italienisches Bilderbuch, Venedig Tageslicht)
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