Karl Schlögel: Die Mitte liegt ostwärts, Carl Hanser 2002 (Perlentaucher)
Epoche zwischen zwei Bildern (S.9-13)
Mauerfall 9.11.1989
Surz der Türme des World Trade Center 11.9.2001
Die 90er Jahre als Transformationszeit.
Die Mitte liegt ostwärts. Die Deutschen, der verlorene Osten und Mitteluropa (S.14-64)
Mitteluropa als verwirrender Begriff. Das alte Mitteluropa war ein ganz anderes als das neue. Völkergefängnis (Befreiung der Nationen aus den Imperien angestrebt) und Völkergemeinschaft, die durch die Osterweiterung der EU entsteht.
Planet der Nomaden (S. 65-123)
"Ein Gespenst geht um, nicht nur in Europa. [...] Der Nomade taucht einfach auf, heute hier, morgen da. Er scheut keine Gefahr. Grenzposten versuchen ihn mit Detektoren und Infrarotgeräten aufzuspüren, aber er läßt sich nicht abschrecken. Er ist furchtlos, denn die Brücken hinter ihm sind verbrannt. Er wird gejagt – eine Million Menschen wir wurde in den Achtzigerjahren an der amerikanisch – mexikanischen Grenze pro Jahr geschnappt und zurückgeschickt –, aber er findet immer wieder einen Durchschlupf. Er kennt die am wenigsten bewachten Stellen der Wohlstandsfestung Europa." (S. 65)
Diese Schilderung, die unter dem Eindruck des Flugzeugattentats vom 11.9.2001 entstanden ist, betont die angstmachende Veränderung für die Wohlstandszentren. Die Opfer, die z.B. bei Patrick Kingsley: Die neue Odyssee. Eine Geschichte der europäischen Flüchtlingskrise, 2016 vorgestellt werden, geraten dabei zunächst nicht in den Blick.
"Migration ist ein 'multinational billion-dollar-business' (Myron Weiner), also ist sie wie Drogenhandel, Prostitution und Waffenhandel Teil der Weltwirtschaft."
(S. 66)
Über Migranten:
"Sie sind nicht willkommen, aber sie werden gebraucht." (S. 67)
"Nach UN-Angaben waren 1993 rund 100 Millionen Menschen weltweit auf Wanderschaft, darin eingeschlossen etwa 15,5 Millionen Migranten in Westeuropa, 20 Millionen in den USA, 8 Millionen in Australien und Kanada und einige Millionen in den Golfstaaten. (S. 68)
"Die Landflucht ist mit weitem Abstand die / umfangreichste Migrationsbewegung auf dem afrikanischen Kontinent (Roland E. Richter)." (S. 69/70)
"Die Turbulenzen des Weltkriegs und der unmittelbaren Nachkriegszeit mit ihren Völkerverschiebungen waren im "Goldenen Zeitalter", wie Erik Hobsbawm die prosperierenden Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs genannt hatte, aus dem Horizont und aus dem Gedächtnis der Europäer verschwunden. [...]" (S.71) Mit dem Krieg in Jugoslawien und im Kaukasus kehrten in Europa Bilder wieder, die längst in Vergessenheit geraten waren. Flüchtlingstrecks, Kinder an der Hand ihrer Mütter über unwegsame Paßstraßen geführt, Menschenprozessionen mit ihren auf Traktoren und Wagen verstauten Habseligkeiten; Zeltstädte und Lager; Szenen aus dem Flüchtlingsleben, die seit Menschengedenken immer die selben geblieben sind [...]" (S.71/72)
"Wer in Sarajevo gestern vertrieben wurde, konnte heute oder morgen an die eigene Tür klopfen. 'World on the Move' war kein virtuelles Thema mehr, und damit wurde alles anders. (S.72)
Weltgeschichte als Wanderungsgeschichte
"[...] Ist nicht gerade die Ortsveränderung typisch und zur Regel geworden für den modernen Menschen? [...] Sobald die Idee der Seßhaftigkeit nicht mehr selbstverständlich ist, ergeben sich viele Fragen. [...] Wie paßt die Forderung nach globaler Freiheit für das Kapital einerseits und nach Unterbindung oder Behinderung der globalen Migration zusammen? [...] Wenn die ganze Menschheit versuchte, sich in Nordamerika oder Europa niederzulassen, käme es zu einem Weltbürgerkrieg. Die entwickelte Welt scheint auch angesichts dieses Dilemmas nicht von ihrer universalistischen Rhetorik abzurücken und lieber den Vorwurf der Doppelmoral und Heuchelei in Kauf zu nehmen." (S.73)
Theoretisierungsversuche
"[...]
Franz Oppenheimer [...] hatte es erstmals unternommen, die 'krause Chiffreschrift der Wirklichkeit' zu entziffern [...] Man kann Oppenheimer zufolge sogar von einer Geburt der Staatlichkeit aus dem Geist des Nomadentums, der Unterwerfung der Seßhaften durch die Nomaden, der Erfindung der Sklaverei wie überhaupt der außerökonomischen Gewalt und der 'Bewirtschaftung des Menschen durch den Menschen' sprechen." (S. 75)
"Seine Definition lautete: 'Das bestimmende Moment in der Geschichte sind die Massenströmungen vom Orte höheren Drucks zum Orte niederen Drucks – von der Armut zum Wohlstand, von der Knechtschaft zur Freiheit." (S. 76)
Eugene M. Kulischer: "Er formulierte als Kernsatz der Migrationsforschung, dass die Geschichte des Menschen die Geschichte seiner Wanderungsbewegungen ist." (Wikipedia)
"Die Übersee-Emigration ist das Ventil, das den Bevölkerungsdruck von den Industriestaaten Europas nehmen soll. Theoretiker wie Malthus propagierten die große Wanderung als Lösung der sozialen Fragen und zur Beseitigung des Pauperismus." (S. 78) "Die Migrationsströme stimulieren sich und treiben sich gegenseitig voran, bis um 1890 das Siedlungswerk in den Vereinigten Staaten im großen und ganzen abgeschlossen ist, und sich inneramerikanisch neue Migrationsprozesse ergeben – vom Land in die Städte und vom Süden der Plantagen in den industriellen Norden.[...]
Die
Kulischers "ahnten, dass die planmäßige Vermehrung der Bevölkerung nicht nur verantwortungslos war, sondern dass 'diese Bevölkerungspolitik nur ein Name für Kriegsvorbereitung und Kriegshetze' war. Es klingt etwas an von Pathos einer Generation von Aufklärern, der die Schrecken noch bevorstehen, wenn die
Kulischers schreiben: 'Die Mechanik der Völkerbewegungen ist eine Naturgewalt wie jede andere, die unter gewissen Bedingungen segensreiche, unter anderem katastrophale Wirkungen hervorbringt, die man nicht abschaffen, wohl aber, wenn ihre Gesetze ergründet sind, versuchen kann zu beherrschen und zum Gedeih statt zum Verderb der Menschheit zu lenken. Eine wahre Organisation des Weltfriedens sie wird nie eine Organisation des Weltstillstandes sein können. [...]' " (S. 79)
"Ihre Optik [...] gewinnt damit gleichsam eine Einsicht in die Hoffnungslosigkeit aller jener Unterfangen, die per Dekret oder internationalen Vertrag, durch diplomatische Arrangements den buchstäblichen Gang der Welt aufhalten wollen.
Die Weltgeschichte wird, so betrachtet noch einmal zurückversetzt, verflüssigt, in statu nascendi gebracht." (S.80)
"Die
Obsession, alle Konflikte der Welt durch die Entfernung des Anderen –
einer Volksgruppe oder einer sozialen Klasse – aus der Welt
schaffen zu können oder schaffen zu müssen, wurzelt tief im 19.
Jahrhundert. Man musste, um Frieden zu schaffen, die streitenden
Parteien nur trennen. Es mussten nur alle dieselbe Sprache sprechen,
und es gab keinen Sprachenstreit mehr. [...] Als Theoretiker des
Gedankens zur Schaffung der ethnisch 'reinen' Staates kommen mehrere
Anwärter infrage. Sicher ist, dass dieser Gedanke weit ins 19.
Jahrhundert zurückreicht. Wie der Historiker Theodor Schieder in
seinen begriffsgeschichtlichen Studien herausfand, wurde die Idee vom
ethnisch 'reinen' Staat offensichtlich von / Heinrich Luden
(1780-1847) schon im Jahre 1814 in seiner Schrift 'Das Vaterland oder
Volk und Staat' formuliert." (S. 89/90)
"Die
mit dem 20. Jahrhundert verbundene Regression hat niemand härter zu
spüren bekommen als die Flüchtlinge und Exilanten. Sie sind
Experten für Fluchterfahrung. Sie können das, was sich in Europa
verändert hat, messen an der Vervielfachung der bürokratischen
Hemmungen, Hindernisse, Schikanen, an der Perfektionierung der
Prozeduren der Abschottung und Verbarrikadierung." (S. 94)
"Es
geht nicht um multikulturellen Kitsch, sondern um die Frage, ob wir
in Europa und anderswo an die schon einmal erreichte Komplexität und
Konfliktfähigkeit der großen multiethnischen und kosmopolitischen
Zentren der Vorkriegswelt anknüpfen können. Was heute als
multikulturell diskutiert wird, hat es schon einmal gegeben – in
Konstantinopel, Alexandria, St. Petersburg, Lodz, Czernowitz und
anderswo. Es fiel den Säuberern zum Opfer.
Was
heute geschieht, ist eine Rückgewinnung von Komplexität,
Konfliktfähigkeit, Weltläufigkeit an anderer Stelle." (S.96)
Hans
Magnus Enzensberger hat formuliert: "Der normale Zustand der
Atmosphäre ist die Turbulenz. Das gleiche gilt für die Besiedelung
der Erde durch den Menschen." (S. 98)
"Europa
selbst war in seiner jüngsten Geschichte beides: Ausgangspunkt einer
beispiellosen Emigration nach Übersee und Aufnahmeland einer ebenso
beispiellosen Immigration. Wir müssen den Blick, den wir heute auf
andere richten, einmal an uns selbst erproben. Was wir heute in den
Megastädten der Entwicklungsländer mit Erschrecken feststellen, das
gab es schon einmal im Laufe der ersten Industrialisierung.
Manchester, Lodz, Berlin, Budapest, St. Petersburg; schon einmal gab
es hier in der Bewegung vom Dorf in die Stadt, von der Landwirtschaft
in die Industrie, die die Elendsviertel der Städte über Nacht
anschwellen ließ." (S. 111/112)
Zeitgenosse
Odysseus
"Es
ist an der Zeit, in den Migranten nicht nur die passiven Opfer, die
sie freilich oft genug waren, zu sehen, sondern auch die Akteure,
die sie zweifellos ebenso sehr sind." (S.115)
"Aber was geschieht, wenn die lateinamerikanische Immigration in die Vereinigten Staaten die kulturelle Hegemonie der WASPs in Frage stellen wird? Spitzer stellt sich diese Frage in den Staaten am persischen Golf. In den Vereinigten Emiraten gibt es 1,5 Millionen Migranten, das sind etwa 90 % der Einwohner. In Saudi-Arabien sind es rund 4 Millionen, also gut 25 % der Bevölkerung. (S. 117/18)
"Fast immer zeigt sich: Migranten sind die Avantgarde der Innovation und Modernisierung. [...] Oft sind es Migranten, die Neues wagen und risikoreiche Unternehmen initiieren. [...] Nachkriegsdeutschland, aber auch Korea mit seinen Millionen von Kriegsflüchtlingen sind Beispiele für gelungene Modernisierung, die auf Entwurzelung basiert. [...]" (S.118/19)
Arbeitsmigranten verdienen Geld, viel Geld. Die von Ihnen veranlassten Geldtransfers machen in einigen Staaten – wie zum Beispiel Pakistan – heute einen Großteil des Nationaleinkommens und des nationalen Budgets aus. Sie stellen eine der wirksamsten Formen von Modernisierung und Entwicklungshilfe dar. Aus ihren finanziellen Transfers erklärt sich die Blüte ganzer Landstriche in Portugal, an der türkischen Schwarzmeerküste oder in Sizilien." (S. 119)
"Migranten sind Meister der Improvisation. Die Flüchtlinge im Nachkriegsdeutschland wurden, weil entwurzelt, in besonderer Weise die Träger der Erneuerung von Wirtschaft und Gesellschaft. "(S.120)
"Der Flüchtling hat die traditionellen und eher konservativen Milieus in Deutschland zersetzt und entschieden die 'Entbäuerlichun'g und die 'Verstädterung' beschleunigt." (S. 121)
Unser Atlantis, unser Pompeji (Es ist untergegangen ( Atlantis), aber es ist auch das, worauf unser Leben und unsere Zukunft aufgebaut hat (Pompeji), S.239-247)
Wichtig ist, dass nicht nur die konkrete Fluchterfahrung, sondern auch das Gefühl, sich in eine neue Gesellschaft einzugewöhnen, von Menschen mit Fluchterfahrung vermittelt werden sollte.
In der Weltkriegsepoche gab es in Europa 40 - 60 Millionen Migranten (im weitesten Sinne), heute gibt es weltweit zwischen 60 und 80 Millionen. Die Einheimischen haben viele Erfahrungen nie gemacht, kennen nicht das Grundgefühl. Das aber ist wichtig für die Einfühlung in die gegenwärtigen Migranten.
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