06 Juli 2021

Juli Zeh: Neujahr, 2018

 Rezension femundo.de:

Lanzarote, am Neujahrsmorgen: Henning sitzt auf dem Fahrrad und will den Steilaufstieg nach Femés bezwingen.

Seine Ausrüstung ist miserabel, das Rad zu schwer, Proviant nicht vorhanden. Während er gegen Wind und Steigung kämpft, lässt er seine Lebenssituation Revue passsieren. Eigentlich ist alles in bester Ordnung.

Er hat zwei gesunde Kinder und einen passablen Job. Mit seiner Frau Theresa praktiziert er ein modernes, aufgeklärtes Familienmodell, bei dem sich die Eheleute in gleichem Maße um die Familie kümmern.

Aber Henning geht es schlecht. Er lebt in einem Zustand permanenter Überforderung. Familienernährer, Ehemann, Vater – in keiner Rolle findet er sich wieder.

Seit Geburt seiner Tochter leidet er unter Angstzuständen und Panikattacken, die ihn regelmäßig heimsuchen wie ein Dämon.

Als Henning schließlich völlig erschöpft den Pass erreicht, trifft ihn die Erkenntnis wie ein Schlag: Er war als Kind schon einmal hier in Femés.

Damals hatte sich etwas Schreckliches zugetragen. Etwas so Furchtbares, dass er es bis heute verdrängt hat …

Urlaub im Scheibenhaus

Die Geschichte beginnt mit einem stinknormalen Familienurlaub. Gebucht mit großen Erwartungen, aber die Realität fällt stark ab.

Daheim hatte Hennig von großen Villen geträumt, einsam gelegenen Anwesen, deren Mauern sich strahlend weiß aus dunklen Bergen erheben. Doch letztlich ist es nur ein Scheibenhaus geworden: ein funktionales Reihenhaus, eine schmale Scheibe Urlaubsglück. Dort verbringen Henning, Theresa und die Kinder ihre Tage genauso wie daheim – jedoch mit deutlich weniger Komfort.


An Neujahr ist Henning endgültig sauer. Er hatte gehofft, Theresa im Urlaub wieder näher zu kommen. Aber auf der Silvesterparty warf sie sich einem Fremden an den Hals. Der Frust bringt Henning auf die Palme und schließlich auf den Berg von Fémes.

Als er am Gipfel zusammenbricht, gleitet er in einen Dämmerzustand zwischen Traum und Realität. Er erinnert sich an die große Tragödie, die er als Kind hier erlebt hat: Tage grenzenloser Überforderung und tiefschwarzer Angst.

Mit dem Erreichen des Gipfels zerfällt auch das Buch in zwei Teile. Beide Hälften erzählen eine eigene Geschichte, die nur lose miteinander verbunden sind. Hennings Dé­jà-vu wirkt ein recht konstruiert und die Erklärung der Panikattacken ein wenig zu geradeaus. Aber dafür wird es ungemein spannend. Der Roman steigert sich zu einem intensiven Drama, in dem der alleingelassene Henning verzweifelt um das Leben seiner Schwester kämpft.

Zwei Familiengeschichten in einem Buch. Eine normale und eine außerordentliche. Gute Unterhaltung mit viel Lanzarote-Flair.

Rezension Deutschlandfunk: Trauma und Panik auf Lanzarote


Fontanefan:

Juli Zeh zeigt die Spannung auf, in die insbesondere die heutige Frauenrolle führt. Die Verantwortung für das Kind zu haben und dabei gleichzeitig die Anforderungen an ein völlig selbstbestimmtes Leben erfüllen zu sollen. Die Überforderung, die das bedeutet, wird in der Haupthandlung durch den älteren Bruder verdeutlicht, der durch den Ausfall der Eltern schlagartig in die Rolle des Haushaltungsvorstands versetzt wird und daran scheitert. In der Nebenhandlung wird an den Eltern von Therese (vergleiche dazu Therese in Wilhelm Meister) angedeutet, dass die neue Konstellation bei den Eltern Erwartungen an die Unterstützung durch die relativ fitten Großeltern entstehen lässt, die über die hinausgehen, die bei einer Mutter als Nur-Hausfrau bestanden. Dass die Eltern der Mutter diese Erwartungen eklatant nicht erfüllen, führt zu einer kleinen Einigkeit der Ehepartner.

Wie schon in Corpus Delicti (der Roman über eine Gesundheitsdiktatur) hat auch dieser Roman Zehs durch die Coronapandemie an Bedeutung hinzugewonnen, weil mit der Verbindung von Home-Office und Homeschooling die Überforderung beider Elternteile noch zu genommen hat.
Dass Juli Zeh schon 2018 den Ausdruck Home-Office aufgreift, verleiht auch diesem Roman einen Hauch von Prophetie, wie er Corpus Delicti seit der Pandemie noch weit deutlicher anhaftet.

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