Igorlied (Wikipedia)
1
"Wie wäre es, Brüder, wenn wir anfingen, nach den alten Überlieferungen die schwere Geschichte vom Zuge Igors zu erzählen, vom Zuge des Igor Swjatoslawitsch. Anfangen aber wollen wir das Lied nach den Bylinen unserer Zeit, nicht nach der Erfindung Bojans. Wenn der Seher Bojan einem ersinnen wollte ein Lied, breitete er sich aus und war in den Bäumen, war auf der Erde als grauer Wolf und als Adler, blaugrau, unter den Wolken. Und sooft er dessen gedachte, was man erzählt aus vergangenen Zeiten von Zwietracht, ließ er zehn Falken los auf eine Herde von Schwänen: [...]
Und nun, Brüder, geht unsere Geschichte von dem alten Wladimir zu dem Gegenwärtigen über, zu Igor, der seinen starken Verstand scharfschliff an seinem mannhaften Herzen und voll kriegerischen Geistes seinen mutigen Völkern voran in das Land der Polowzer zog durch die russische Erde.2
Da blickte Igor suchend zur klaren Sonne auf und sah: sein ganzes Heer war durch ein Dunkel verdeckt vor der Sonne. Und es sagte Igor zu seinem Gefolge: »Brüder und liebe Gefolgschaft! Lieber zerhauen werden denn gefangen. Auf unsere mutigen Pferde hinauf, daß wir den dunkelblauen Don zu sehen bekommen.« Denn die Lust fiel den Fürsten an, zu versuchen den großen Don, und die Sehnsucht war stärker in ihm als das Zeichen des Himmels. »Ich will« – ruft er, »einen Speer brechen mit euch, Russen, auf fernem polowzischem Feld. Meinen Kopf will ich hinlegen oder aus meinem Helme trinken vom Don.« – O Bojan, Nachtigall uralter Zeit! sängest du diese Völker, hinhüpfend, du Nachtigall, durch walddichte Gedanken, auffliegend im Geiste unter die Wolken und herabsinkend, Nachtigall, auf beide Hälften dieser Zeit, – auf trojanischer Fährte hinrasend durch Felder und Berge hinan, – so sängest du also das Lied des Igor, des Enkels von Oleg: »Der Sturm hat nicht Falken getragen weit über die Felder hin: Dohlen jagen in Zügen zum großen Don.« Oder du sängest, Bojan, wahrsagender Enkel des Weles: »Pferde wiehern die Sula entlang; Kiew erklingt vom Ruf, und Hörner hallen in Nowgorod.« [...]
Vom Morgen zum Abend und vom Abend zum Morgen fliegen die stählernen Pfeile, die Säbel dröhnen unter den Helmen, und die harten Speere zerkrachen auf fremdem Feld, tief im polowzischen Land. Die schwarze Erde unter den Hufen war mit Gebeinen besäet und begossen mit Blut: was konnte da anderes wachsen als Leid für das russische Land.*
Was braust dort, was brüllt dort so früh vor Tag? ... Igor wälzt seine Heere dahin: ihm tut der liebe Bruder wohl leid – Wsewolod. Einen Tag schlugen sie sich und einen zweiten Tag, und am dritten Mittag sanken die Fahnen Igors. Dort am Ufer der schnellen Kajala nahmen zwei Brüder Abschied; dort reichte der Blut-Wein nicht mehr, dort hoben die tapferen Russen das Mahl auf: die Werber waren unter den Tisch getrunken, und sie selber legten sich hin für das russische Land. In Mitleid bog sich das Steppengras, und die Bäume hingen vor Trauer.
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Und da, Brüder, begann eine ungute Zeit; in der Einöde lag begraben die russische Macht, und das Unrecht stand auf in den Kräften der Enkel des Dashdbog. [...]
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Großer Fürst Wsewolod (Groß-Nest), fliegt dir nicht von fern der Gedanke zu, deines Vaters goldenen Thron zu beschützen: denn du kannst mit deinen Rudern Muster in die Wolga weben und mit deinen Helmen ausschöpfen den Don. Wärest du hier, so wäre eines Weibes Gefangenschaft eine Scheidemünze wert und ein Gefangener ein Marderfell; aber du hast auch zu trockener Schlacht lebendige Bogen: des Gleb waghalsige Söhne. [...]
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Es sang Bojan auch von den Tagen Swjatoslaws, der Sänger der uralten Zeiten Jaroslaws und Olegs: »Fürstengeschlecht, schwer mag es dir sein, Haupt ohne Schulter, aber auch dir ist es schwer, Leib ohne Haupt.« So war es dem russischen Lande schwer ohne Igor. Nun steht die Sonne hell in den Himmeln: Fürst Igor ist wieder auf russischer Erde. Am Dunai singen die Mädchen, und es wehn ihre Stimmen über das Meer hin nach Kiew. Igor reitet über Boritschow zum heiligen Bilde der pirogoschtschischen Muttergottes. Und die Gegenden freuen sich, und die Städte sind froh.
Gesungen ist den alten Fürsten ihr Lob; nun singet die jungen: Heil Igor Swjatoslawitsch, Heil Wsewolod, weißer Stier, Wladimir, des Igor Sohn, Heil! Gegrüßt seien die Fürsten und ihre Gefolgschaften, die für die Christenheit streiten gegen ungläubige Horden. Heil den Fürsten und ihren Gefolgschaften, Heil!
(Übersetzung von R.M. Rilke)
Das Igor-Lied, ein umkämpftes Heldenepos von Christian Thomas FR-online 22.7.2022
[...] Obwohl russisch-ukrainischer Schulstoff und hier wie dort zum Literaturkanon gehörend, ist das Igor-Lied umkämpftes Terrain. Ständig wurde es in Russland, liest man bei Slawisten, anders verstanden als in der Ukraine. Kein gemeinsamer Gedächtniskonsens. Haben doch imperiale großrussische Ambitionen seit dem 17. Jahrhundert die Eigenständigkeit der Ukraine unablässig in Abrede gestellt, deren Identität und Integrität als Nation, gründend in der Kiewer Rus des 12. Jahrhunderts. Und heute?
Nie ist ein Anfang nur so gemacht, aus dem Nichts."
Im Text findet sich 29-mal das Wort nicht.
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