12 Juli 2022

Walter Benjamin

H. Ritter: Walter Benjamin in: Hennig Ritter: Die Eroberer. Denker des 20. Jahrhunderts, Beck 2008, S.85-109 

Das "Fortleben sei nicht etwas vom Leben Abgesetztes [...] Vielmehr soll es ein dem Subjekt entzogener Teil seines Lebens sein, ein Unpersönliches im Persönlichen.

Benjamins Schriften zielen offenbar auf Ähnliches. Sie enthalten einen Anteil von subjektiv Unfassbarem, suchen dem mit der Erfahrung des Subjekts nicht Vermittelbaren Raum zu geben und das Subjekt zum Schauplatz von etwas ihm Inkommensurablen zu machen. [...] Dem Misstrauen Walter Benjamins gegen das Nachleben der Werke als gegen ein ihnen Fremdes antwortet seine Absicht, in seinen Schriften authentisch fremdem Einlass zu verschaffen. Darauf verweist eine / Eigenart, die Scholem an ihm bemerkte: die Verwechslung von Persönliche und Unpersönlichen."  (S.87/88) 

 "[...] Benjamins Unverstehbarkeit. Man mag herausgreifen, was irgend ihm wichtig war, immer ist die Formulierung wie versiegelt gegen ein natürliches Verständnis, als sei es ihm darum gegangen, den Gedanken unbrauchbar zu machen für jede ihm zugedachte Verwendung." (S.88)
"Hierher gehört auch Benjamins merkwürdige Begabung für glasklar wirkende Definitionen, die freilich nicht erhellen, sondern verdunkeln. In einer Diskussion über Anschauung formuliert er: 'Gegenstand der Anschauung ist die Notwendigkeit eines sich im Gefühl als rein ankündigenden Inhalts, wahrnehmbar zu werden. Das Vernehmen dieser Notwendigkeit heißt Anschauen.' Wegen solcher Gegensinnigkeit fügt sich Benjamins Denken auch keiner der ihm nahestehenden Gattungen. (S. 89)
"Alle Umwege sind recht, solange sie nicht zum Ziel führen, so könnte Benjamins Devise gelautet haben." (S.89)
In keinem anderen sonst hat Benjamin sich selbst so unverhüllt porträtiert wie in Kafka: 'Um Kafkas Figur in ihrer Reinheit und ihrer eigentümlichen Schönheit gerecht zu werden, darf man das Eine nicht aus dem Auge lassen: es ist die von einem Ge/scheiterten. Die Umstände dieses Scheitern sind mannigfache. Man möchte sagen: war er des endlichen Misslingens erst einmal sicher, so gelang ihm unterwegs alles wie im Traum. Nichts denkwürdiger als die Inbrunst, mit der Kafka sein Scheitern unterstrichen hat.' [...] 
So erkennbar hat Benjamin sich nirgends sonst beschrieben." (S. 89/90)

Sein Passagenwerk* sollte ursprünglich nur aus Zitaten bestehen, dem ihm Inkommensurablen. Nachdem er sich von Adorno von dieser Form hat abbringen lassen, ist es unvollständig geblieben, also "gescheitert".

"Die Fragmente des eigentlichen Passagenwerks kann man den Baumaterialien für ein Haus vergleichen, von dem nur gerade erst der Grundriss abgesteckt oder die Baugrube ausgehoben ist. Mit den beiden Exposees, die der Ausgabe voranstehen, hat Benjamin seinen Plan in großen Strichen entworfen, so wie er ihm 1935 und 1939 vor Augen stand: den sechs, bzw. fünf Abschnitten der Exposees sollten ebenso viele Kapitel seines Buches oder, um im Bild zu bleiben, ebenso viele Geschosse in dem zu bauenden Haus entsprechen. Neben der Baugrube findet man die Exzerpte aufgehäuft, aus denen die Mauern errichtet worden waren.  Benjamins eigene Reflexionen aber hatten den Mörtel abgegeben, durch den das Gebäude zusammenhalten sollte. Von solchen theoretischen und interpretierenden Reflexionen sind zwar zahlreiche vorhanden, doch am Ende scheinen sie hinter dem Exzerptenbestand fast verschwinden zu wollen. Der Herausgeber hat zuzeiten gezweifelt, ob es sinnvoll wäre, diese erdrückenden Zitatmassen zu veröffentlichen; ob er sich nicht besser auf den Abdruck der Benjaminschen Texte beschränkte, die leicht in eine lesbare Anordnung gebracht werden konnten und eine konzentrierte Sammlung funkelnder Aphorismen und beunruhigender Fragmente ergeben hatten. Indessen wäre das mit dem Passagenwerk Projektierte dahinter nicht einmal mehr zu erahnen gewesen. Benjamins Absicht war, Material und Theorie, Zitat und Interpretation in eine gegenüber jeder gängigen Darstellungsform neue Konstellation zu bringen, in der alles Gewicht auf den Materialien und Zitaten liegen und Theorie und Deutung asketisch zurücktreten sollten. Als »ein zentrales Problem des historischen Materialismus«, das er mit dem Passagenwerk zu lösen gedachte, hat er die Frage bezeichnet, »auf welchem Wege es möglich [sei], gesteigerte Anschaulichkeit mit der Durchführung der marxistischen Methode zu verbinden." (S.12/13) (Einleitung des Herausgebers des Passagenwerks: Rolf Tiedemann)

Zitate aus dem Passagenwerk:
"»Die alte Gewohnheit aber, bei allem Geschehen an Ziele . . . zu denken, ist so mächtig, daß der Denker Mühe hat, sich selber die Ziellosigkeit der Welt nicht wieder als Absicht zu denken. Auf diesen Einfall - daß also die Welt absichtlich einem Ziele ausweiche ... - müssen alle Die verfallen, welche der Welt das Vermögen zur ewigen Neuheit aufdecretiren mochten [p 369] . . . Die Welt, als Kraft, darf nicht unbegrenzt gedacht werden, denn sie kann nicht so gedacht werden. . . Also - fehlt der Welt auch das Vermögen zur ewigen Neuheit. « Nietzsche: GW XIX (München 1926) p 370 (Der Wille zur Macht, Viertes Buch) [D8.3]" (S.173)
"Toussenel gibt die Theorie des Kreises und der Parabel mit Beziehung auf die verschiednen Spiele der beiden Geschlechter. Das erinnert an die Anthropomorphismen Grandvilles. »Les figures cheries de l'enfance affectent invariablement la forme spherique, la balle, le cerceau, la bille; les fruits qu'elle aime de preference aussi: la cerise, la groseille, la pomme d'api, la tourte aux confitures . . . L'analogiste qui a observe ces jeux avec une attention suivie n'a pas ete sans remarquer une difference caracteristique dans le choix des amusettes et des exercices favoris des enfants des deux sexes . . . Qu'a done remarque notre observateur dans le caractere des jeux de l'enfance feminine? Il a remarque dans la physionomie de ces jeux une propension decidee vers 1'ellipse. Je compte, en effet, parmi les exercices favoris de l'enfance feminine, le volant et la corde ... La corde et le volant decrivent des courbes elliptiques ou paraboliques. Pourquoi cela? Pourquoi, si jeune encore, cette preference du sexe mineur pour la courbe elliptique, et ce mepris manifeste pour la bille, la balle et la toupie? Parce que 1'ellipse ... est la courbe d'amour, comme le cercle est celle d'amitie. L'ellipse est la figure dont Dieu ... a profile la forme de ses creatures favorites, la femme, le cygne, le coursier d'Arabie, les oiseaux de Venus; l'ellipse est la forme attrayante par essence . . . Les astronomes ignoraient genera- lement . . . pour quelle cause les planetes decrivaient des ellipses et non pas des circonferences autour de leur pivot d'attraction; ils en savent maintenant sur ce mystere autant que moi.« Toussenel lc p 89-91 

Toussenel stellt eine Symbolik der Kurven auf, derzufolge der Kreis die Freundschaft, die Ellipse die Liebe, die Parabel den Familiensinn, die Hyperbel den Ehrgeiz darstellt. Im Abschnitt iiber die letztere führt die folgende Stelle besonders nahe an Grandville heran: »L'hyperbole est la courbe de l'ambition ... Admirez la persistance opiniatre de l'ardente asymptote, poursuivant l'hyper- bole d'une course echevelee; elle approche, elle approche toujours du but . . . mais elle ne l'atteint pas.« A Toussenel: L'esprit des betes Paris 1 8 84 p 92" (S.258)
"Christus hat den Zorn gekannt, auch die Tränen; er hat nicht gelacht. Virginie würde nicht lachen, wenn sie einer Karikatur ansichtig wird. Der Weise lacht nicht; auch die Unschuld nicht. »Le comique est un element damnable et d'origine diabolique.« De l'essence du rire OEuvres II ed Le Dantec p 168 [J 31 a, 1]
Baudelaire unterscheidet le comique significatif vom comique absolu. Nur dieses ist ein würdiger Gegenstand des Nachdenkens: das Groteske. [J 31 a, 2]
Allegorische Auslegung der modernen Männerkleidung im Salon von 1846: { » ) Quant a l'habit, la pelure du heros moderne . . . n'est-il pas l'habit necessaire de notre epoque, souffrante et portant jusque sur ses epaules noires et maigres le symbole d'un deuil perpetuel? Remarquez bien que l'habit noir et la redingote ont non-seulement leur beaute politique, qui est l'expression de l'egalite universelle, mais encore leur beaute poetique, qui est l'expression de l'âme publique; - une immense defilade de croque-morts, croque-morts politiques, croque-morts amoureux, croque-mors bourgeois. Nous celebrons tous quelque enterrement.« CEuvres ed Le Dantec Up 134 Q3 ia >3]
Die unvergleichliche Kraft in Poes Beschreibung der Menge. Man denkt an frühe Lithographien von Senefelder wie den Spielclub, die Menge nach Einbruch der Dunkelheit: »Les rayons des bees de gaz, faibles d'abord quand ils luttaient avec le jour mourant, avaient main tenant pris le dessus et jetaient sur toutes choses une lumiere etincelante et agitee. Tout etait noir, mais eclatant - comme cette ebene a laquelle on a compare le style de Tertullien.« Edgar Poe: Nouvelles histoires extraordinaires Traduction de Ch(arles) B(au- delaire ) Paris (i886)p94D Flaneur D [J 31 a,4]" (S.363)
»Die Welt . . . lebt von sich selber: ihre Excremente sind ihre Nahrung.« Nietzsche: GW XIX p 371 (Der Wille zur Macht, Viertes Buch) [D 8, 4]
Die Welt »ohne Ziel, wenn nicht im Glück des Kreises ein Ziel liegt, ohne Willen, wenn nicht ein Ring zu sich selber guten Willen hat.« Nietzsche: Gesammelte Werke München XIX p 374 (Der Wille zur Macht, Viertes Buch) [D8,j]
Zur ewigen Wiederkunft: »Der große Gedanke als Medusenbaupt: alle Züge der Welt werden starr, ein gefrorener Todeskampf.« Friedrich Nietzsche: Gesammelte Werke München {1925) XIV Aus dem Nachlaß 1882-i888pi88 [D8,6]
"Vorschlag, die Toten der Morgue bis auf das Haupt mit einem Wachstuche zu bedecken. »Le public, qui fait queue a la porte, est admis a examiner a son aise le cadavre nu du mort inconnu . . . Du jour ou la morale sera respectee, l'ouvrier qui, a Pheure du repas, se rend a la Morgue, les mains dans les poches, la pipe a la bouche et le sourire sur les levres, et vaudevillise grivoisement sur les nudites plus ou moins putrefiees des deux sexes, se degoutera bientot de la parcimonie apportee desormais dans la mise en scene du spectacle. Je n'exagere pas, il se passe chaque jour a la Morgue des scenes graveleuses; on y rit, on y fume, on y cause a haute voix.« Edouard Foucaud: Paris inventeur Physiologie de l'industrie franchise Paris 1844 P212/213 [1,3,3]" (S.518)
"Man hat von Paris als von der ville qui remue gesprochen, als von der Stadt, die sich dauernd bewegt. Aber nicht weniger bedeutungs- voll als das Leben des Stadtplans ist hier die unbezwingliche Kraft in den Namen von Straßen, Plätzen oder Theatern, die aller topographischen Verschiebung zum Trotze dauern. Wie oft hat man nicht einzelne jener kleinen Bühnen, die noch zur Zeit von Louis-Philippe am Boulevard du Temple beieinander lagen, abgerissen, um immer von neuem in einem anderen Quartier - von Stadtteilen zu sprechen, widerstrebt mir - sie wieder erscheinen zu sehen, wieviele Straßennamen halten noch heute den Namen eines Grundbesitzers fest, der vor Jahrhunderten auf ihrem Boden seine Terrains hatte? Der Name des »Chateau d'Eau«, einer früheren Fontäne, die längst nicht mehr da ist, spukt heute noch in verschiednen Arrondissements. Auf ihre Weise haben sogar die berühmten Lokale sich ihre kleine Kommunalunsterblichkeit gesichert, ganz von der großen literarischen zu schweigen, wie sie dem Rocher de Cancall, Véfour, den Trois Frères Provincaux zuteil wurde. Denn kaum hat sich ein Name gastronomisch durchgesetzt, kaum sind Vatel oder Riche berühmt und bis in die faubourgs hinaus wimmelt Paris von Petits Vatels und Petits Riches, das ist die Bewegung der Straßen, die Bewegung der Namen, die oft genug windschief gegen einander verlaufen ." (Passagenwerk, S.643)


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Das Passagenwerk (Band 5 der Gesammelten Schriften)

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