08 August 2010

Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen

[...] in der Vorrede, die ich zu meinen guten Schriften rechne, begann ich meine Grundsätze ein wenig offener und klarer, als ich es bisher gethan, darzulegen.


Ich bekam bald Gelegenheit, sie in einem Werke von größerem Belange vollständig zu entwickeln, denn in eben diesem Jahre 1753 erschien, wie ich denke, das Programm der Akademie von Dijon über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen. Von dieser großen Frage angeregt, war ich überrascht, daß die Akademie den Muth gehabt, sie aufzugeben; aber da sie ihn einmal gehabt hatte, konnte ich auch wohl den haben, sie zu behandeln, und ich unternahm es.

Um über dieses große Thema in Ruhe nachzudenken, machte ich mit Therese, unserer Wirthin, einer höchst gutmüthigen Frau, und mit einer ihrer Freundinnen eine Reise von sieben oder acht Tagen nach Saint-Germain. Ich rechne diesen Ausflug zu den angenehmsten meines Lebens. Das Wetter war sehr schön; die guten Frauen sorgten für alles und trugen die Kosten; Therese war mit ihnen heiter und glücklich, und ich, der ich mich von allen Sorgen frei fühlte, kam, um mich in den Stunden der Mahlzeiten zwanglos zu erheitern. Den ganzen übrigen Tag mitten im Walde weilend, suchte und fand ich das Bild der Urzeit, deren Geschichte ich in kühnen Umrissen entwarf; ich deckte die kleinen Lügen der Menschen auf; ich wagte ihre Natur bis zur Nacktheit bloß zu stellen, ihre fortschreitende Entstellung durch Zeiten und Dinge darzuthun, und indem ich den Menschen, wie er durch seine Mitmenschen geworden, mit dem Menschen der Natur verglich, hatte ich den Muth, ihm gerade in seiner vermeintlichen Vervollkommnung die eigentliche Quelle seines Elends zu zeigen. Meine durch diese erhabenen Betrachtungen beschwingte Seele erhob sich an die Seite der Gottheit und von dort sehend, wie meine Mitgeschöpfe in der Blindheit ihrer Vorurtheile immer auf dem Wege ihrer Irrthümer, ihrer Leiden und ihrer Verbrechen blieben, rief ich ihnen mit einer schwachen Stimme, die sie nicht zu vernehmen vermochten, zu: »Wahnsinnige, die ihr unaufhörlich über die Natur klagt, lernet, daß alle eure Uebel in euch selber ihre Quelle haben.«

Aus diesen Betrachtungen entstand die Abhandlung über die Ungleichheit, ein Werk, das Diderot besser gefiel als alle meine andern Schriften und für das mir seine Rathschläge äußerst nützlich waren, das aber in ganz Europa nur wenige Leser fand, die es verstanden, und unter diesen keinen, der davon reden mochte. Es war zur Preisbewerbung verfaßt; ich sandte es also ein, wenn auch im voraus dessen sicher, daß es den Preis nicht bekommen würde, und in dem Bewußtsein, daß für derartige Arbeiten die Preise der Akademien nicht gestiftet sind. (8. Buch)


Rousseaus Fußnote zu seiner Bemerkung über Diderots Hilfe:

Als ich dies schrieb, ahnte ich das große Complot Diderots und Grimms noch nicht, sonst würde ich leicht erkannt haben, einen wie großen Mißbrauch ersterer mit meinem Vertrauen trieb, um meinen Schriften diese harte Sprache und das düstere Colorit zu geben, die sie nicht mehr hatten, als er mich zu leiten aufhörte. Das Bild des Philosophen, der sich bei seinen hochtrabenden Schlußfolgerungen die Ohren zustopft, um sich gegen die Klagen eines Unglücklichen zu verhärten, hat er mir eingegeben; und auch andere noch stärkere hatte er mir anempfohlen, zu deren Benutzung ich mich jedoch nicht entschließen konnte. Aber da ich seine düstere Stimmung als eine Nachwirkung seines Aufenthaltes im Thurm zu Vincennes betrachtete, von der man noch in seinem Clairval eine ziemlich starke Beigabe findet, so fiel es mir nicht ein, die geringste böse Absicht dabei zu argwöhnen.

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