05 August 2010

Frau von Warens

Der Genfer Rousseau vom calvinistischer Bekenntnis zum katholischen konvertiert. Zum Lohn schickte man ihn zu einer adeligen Dame, die ebenfalls konvertiert war:
Endlich lange ich an; ich sehe Frau von Warens. Diese Epoche meines Lebens hat über meinen Charakter entschieden. Ich kann mich nicht entschließen, leicht darüber hinwegzugehen. [...]
Ich traf Frau von Warens nicht an; man sagte mir, sie wäre eben zur Kirche gegangen. Es war der Palmsonntag des Jahres 1728. Ich laufe um ihr zu folgen: Ich sehe sie, ich hole sie ein, ich rede sie an. Unaufhörlich schweifen meine Gedanken zu dieser Stelle hinüber, die ich seitdem oft mit meinen Thränen genetzt und mit meinen Küssen bedeckt habe. O daß ich diese glückselige Stätte mit einem goldenen Gitter umgeben, ihr die Huldigungen der ganzen Erde zulenken könnte! [...]
Louise Eleonore von Warens war ein geborenes Fräulein de la Tour de Pil; ihre alte adlige Familie wohnte in Vevay, einer Stadt im Canton Waadt. Noch sehr jung hatte sie Herrn von Warens aus dem Hause Loys, ältesten Sohn des Herrn von Villardin von Lausanne geheirathet. Da diese Ehe, aus der keine Kinder hervorgingen, nicht allzu glücklich war, ergriff Frau von Warens, von häuslichem Kummer getrieben, die sich ihr durch die Anwesenheit des Königs Victor Amadeus in Evian darbietende Gelegenheit und fuhr über den See, um sich diesem Fürsten zu Füßen zu werfen, und riß sich so durch eine der meinigen sehr ähnliche Unbesonnenheit, die sie ebenfalls immerdar hat beweinen müssen, von ihrem Gatten, ihrer Familie und ihrer Heimat los. Der König, der gern den eifrigen Katholiken spielte, nahm sie unter seinen Schutz, bewilligte ihr eine Pension von fünfzehnhundert piemontesischen Livres, was für einen im Allgemeinen wenig freigebigen Fürsten eine bedeutende Summe war, und sandte sie, als er wahrnahm, daß man ihn um deswillen für verliebt in sie hielt, von einer Abtheilung seiner Garden geleitet, nach Annecy, wo sie unter der Gewissensleitung des Titularbischofes von Genf, Michael Gabriel von Bernex, im Kloster der Heimsuchung Mariä ihren Glauben abschwor.
Als ich in Annecy eintraf, war sie schon sechs Jahre daselbst und zählte damals achtundzwanzig Jahre, da sie am Anfange des Jahrhunderts geboren war. Ihre Schönheit gehörte zu jenen, die lange Dauer haben, weil sie sich weniger in den Zügen als in dem Gesichtsausdrucke ausprägt; auch war die ihrige noch in ihrem ersten Glanze.[...] (2.Buch)

Rousseau war nach Turin geschickt worden, um in die katholische Religion eingeführt zu werden, und kehrte nach einigen aufregenden Erlebnissen zur Frau Warens zurück:
Kaum zeigte ich mich den Augen der Frau von Warens, als ihre Miene mich sofort beruhigte. Ich erbebe beim ersten Tone ihrer Stimme, stürze mich ihr zu Füßen und drücke im Entzücken der lebhaftesten Freude meinen Mund auf ihre Hand. Ich weiß nicht, ob sie bereits über mich benachrichtigt war, doch drückte sich wenig Ueberraschung und noch weniger Verdruß in ihren Zügen aus. »Armer Kleiner,« sagte sie in liebkosendem Tone zu mir, »so bist du also wieder da. Ich wußte wohl, daß du für eine derartige Reise zu jung warst; ich bin recht zufrieden, daß sie nicht einen so üblen Ausgang genommen, wie ich befürchtet hatte.« [...]
Vom ersten Tage an entwickelte sich zwischen uns die innigste Vertraulichkeit, welche während ihrer ganzen übrigen Lebenszeit in gleichem Grade fortgedauert hat. »Kleiner« wurde ich genannt, »Mama« redete ich sie an, und beständig blieben wir Kleiner und Mama, selbst dann noch, als die Zahl der Jahre den Unterschied zwischen uns beinahe völlig verwischt hatte. Ich finde, daß diese beiden Benennungen unsern Umgangston, die Harmlosigkeit unseres gegenseitigen Verhaltens und namentlich das Verhältnis unserer Herzen zu einander treffend bezeichnen. Sie war für mich die zärtlichste der Mütter, die nie ihr Vergnügen, sondern lediglich mein Wohl im Auge hatte, und wenn bei meiner Zuneigung zu ihr die Sinnlichkeit mit in das Spiel kam, so veränderte sie gleichwohl nicht den Charakter derselben, sondern verlieh ihr nur einen höheren Reiz und machte mich vor Entzücken trunken, eine junge und hübsche Mama zu haben, die zu liebkosen meine Lust war. Ich sage liebkosen buchstäblich genommen, denn nie kam es ihr in den Sinn, sich der Küsse und der zärtlichsten mütterlichen Liebkosungen gegen mich zu enthalten, und nie stieg der Gedanke in mir auf, davon Mißbrauch zu machen. Man wird behaupten, daß wir im Laufe der Zeit doch wohl ein Verhältnis anderer Art werden zu einander gehabt haben; ich gebe es zu, aber man muß es abwarten, ich kann nicht alles auf einmal sagen.
Die wenigen Minuten unseres ersten Zusammentreffens waren der einzige wirklich leidenschaftliche Augenblick, den sie mich je hat fühlen lassen, und noch dazu war dieser Augenblick ein Werk der Ueberraschung. Nie suchten meine Blicke unbescheiden unter ihr Halstuch zu dringen, obgleich eine darunter schlecht verhüllte Fülle sie recht wohl hätte dorthin ziehen können. Ich fühlte in ihrer Nähe weder Wonneschauer noch Verlangen; ich befand mich in einer entzückenden Ruhe und einem süßem Genusse, ohne zu wissen, was ich genoß. Ich hätte auf diese Weise mein ganzes Leben und selbst die Ewigkeit zubringen können, ohne mich einen Augenblick zu langweilen. Sie ist die einzige Person, bei der ich nie jene Trockenheit der Unterhaltung gefühlt habe, die mir die Pflicht, sie fortzuführen, zur Marter macht. Unsere Unterhaltung bei unseren Zusammenkünften bestand nicht sowohl in einem regelrechten Gespräche, als vielmehr in einem unerschöpflichen Geplauder, welches unterbrochen werden mußte, wenn es ein Ende haben sollte. Sie mußte mir eher Schweigen gebieten, als mich zum Reden auffordern. Da sie unaufhörlich über ihre Projecte grübelte, verfiel sie oft in Träumerei. Ruhig ließ ich sie dann träumen; ich schwieg, betrachtete sie und war der glücklichste der Menschen. Noch eine sonderbare Wunderlichkeit war mir eigen. Ohne die Gunst des Alleinseins mit ihr zu beanspruchen, suchte ich es unaufhörlich und hatte eine leidenschaftliche Freude daran, die in Wuth ausartete, wenn zudringliche Menschen es störten. Sobald jemand kam, mochte es nun Mann oder Frau sein, ging ich murrend fort, da ich es nicht zu Dritt bei ihr auszuhalten vermochte. Ich zählte in ihrem Vorzimmer die Minuten, während ich tausendmal diese ewigen Besucher verfluchte und nicht begreifen konnte, was sie so viel zu sagen hatten, weil ich noch mehr zu sagen hatte.
Ich empfand erst die ganze Stärke meiner Zuneigung zu ihr, wenn ich sie nicht sah. Wenn ich sie sah, erfüllte mich nur ein Gefühl der Befriedigung; aber in ihrer Abwesenheit steigerte sich meine Unruhe bis zur Pein. Das Bedürfnis des Zusammenseins mit ihr gab mir Aufwallungen von Rührung, die bis zu Thränen gingen. Ich werde nie vergessen, wie ich an einem hohen Feiertage, während sie in dem Nachmittagsgottesdienste war, vor der Stadt lustwandelte, das Herz voll von ihrem Bilde und dem glühenden Wunsche, meine Tage an ihrer Seite zu verleben. Ich hatte Verstand genug, um einzusehen, daß es gegenwärtig nicht möglich war, und daß ein Glück, wie es mir jetzt in so hohem Grade zu Theil wurde, nur kurz sein könnte. Dies verlieh meiner Träumerei eine Schwermuth, die gleichwohl nichts Düstres hatte und von einer schmeichelhaften Hoffnung gemildert wurde. Der Glockenklang, der mich stets eigenthümlich gerührt hat, der Gesang der Vögel, die Schönheit des Tages, die Anmuth der Gegend, die zerstreuten Landhäuser, die ich in meiner Phantasie zu unserm gemeinsamen Asyle ausersah, das alles brachte auf mich einen so lebhaften, zarten, schwermüthigen und rührenden Eindruck hervor, daß ich mich wie in schwärmerischer Verzückung schon in diese glückliche Zeit und in diese beglückende Heimstätte versetzt sah, wo mein Herz im Besitze jeder Seligkeit, die das Ziel seines Sehnens war, sie in unbeschreiblichen Entzückungen empfand, ohne dabei auch nur an die Sinneslust zu denken. Ich erinnere mich nicht, mich je mit größerer Kraft und Illusion in die Zukunft versenkt zu haben als damals, und was mich bei der Erinnerung an diese Träumerei nach ihrer endlichen Verwirklichung am meisten überrascht hat, ist das Auffallende, daß ich die Gegenstände genau so, wie ich sie mir vorgestellt, wiedergefunden habe. Wenn je die Träumerei eines Menschen im wachen Zustande an eine prophetische Vision streifte, so war es sicherlich die eben erzählte. Nur in ihrer eingebildeten Dauer unterlag ich einer Täuschung, denn die Tage und die Jahre und das ganze Leben verflossen darin in unveränderlicher friedlicher Ruhe, während in Wirklichkeit das alles nur einen Augenblick gedauert hat. Ach, mein dauerndstes Glück hat nur ein Traum mir vorgegaukelt; auf seine Erfüllung folgte fast unmittelbar das Erwachen.Ich fände kein Ende, ließe ich mich auf eine ausführliche Aufzählung aller Thorheiten ein, welche mich der Gedanke an die liebe Mama, sobald ich nicht unter ihren Augen weilte, begehen ließ. Wie oft habe ich mein Bett geküßt, weil ich mir vorstellte, daß sie darin gelegen, wie oft meine Vorhänge, alle Möbel meines Zimmers, bei dem Gedanken, daß sie ihr gehörten, daß ihre schöne Hand sie berührt hatte, ja selbst den Fußboden, auf den ich mich in der Vorstellung, daß sie darüber hingeschritten, niederstürzte! Mitunter ließ ich mich sogar in ihrer Gegenwart zu Thorheiten hinreißen, zu welchen dem Anscheine nach nur die heftigste Liebe den Antrieb geben konnte. Eines Tages rufe ich bei Tische in dem Augenblicke, als sie eben einen Bissen in den Mund gesteckt, daß ich ein Haar an ihm gesehen hätte; kaum hat sie ihn auf ihren Teller zurückgeworfen, so erhasche ich ihn gierig und verschlinge ihn. Mit einem Worte, zwischen mir und dem leidenschaftlichsten Liebhaber gab es nur einen einzigen, aber höchst wesentlichen Unterschied, der meinen Zustand für die Vernunft beinahe unbegreiflich macht.
Ich war von Italien nicht völlig so, wie ich hingegangen, zurückgekehrt, wie man jedoch in meinem Alter vielleicht noch nie von dort zurückgekehrt ist. Ich hatte nicht meine Jungfräulichkeit zurückgebracht, mich aber doch körperlich unbefleckt erhalten. Die mit den Jahren fortschreitende Reife hatte sich mir fühlbar gemacht; meine Sinnlichkeit hatte sich endlich offenbart, und ihr erster, sehr unabsichtlicher Ausbruch hatte mich hinsichtlich meiner Gesundheit in eine Unruhe versetzt, die besser als alles andere die Unschuld zu erkennen giebt, in der ich bis dahin gelebt hatte. Bald wieder beruhigt, lernte ich jenen gefährlichen Ausweg kennen, welcher die Natur irreführt und junge Leute meiner Natur auf Kosten ihrer Gesundheit, ihrer Kraft und zuweilen ihres Lebens vor vielen Ausschweifungen bewahrt. Dieses Laster, welches die Scham und die Schüchternheit so bequem finden, hat für lebhafte Phantasien noch einen großen Reiz mehr, den, gleichsam über das ganze Geschlecht nach eigenem Belieben zu verfügen und jede Schönheit, die sie mit Begierde erfüllt, ihrer Lust dienstbar zu machen, ohne erst ihre Einwilligung nöthig zu haben. Von diesem traurigen Vortheile verführt, war ich damit beschäftigt, den gesunden Körper zu zerrütten, den mir die Natur geschenkt und dem ich Zeit gegeben hatte, kräftig zu gedeihen. Denke man sich zu diesem bösen Hange noch den Schauplatz, auf dem ich mich bewegte, im Hause einer schönen Frau, während ich ihr Bild in der Tiefe meines Herzens trug, sie am Tage unaufhörlich sah, am Abende von Gegenständen, die mich an sie erinnerten, umgeben war, und in einem Bette schlief, in welchem, wie ich wußte, auch sie gelegen hatte. Welche Reizungen! Mancher Leser, der sie sich vergegenwärtigt, wird mich schon als halbtodt betrachten. Ganz im Gegentheile, was mich hätte ins Verderben stürzen sollen, rettete mich auf einige Zeit. Berauscht von der Wonne, an ihrer Seite leben zu können, von dem glühenden Verlangen, alle meine Tage bei ihr zuzubringen, erblickte ich, ob ich bei ihr weilte oder fern von ihr war, in ihr stets eine zärtliche Mutter, eine geliebte Schwester, eine liebenswürdige Freundin und nichts weiter. Ich sah sie stets so, stets die nämliche, und sah nichts als sie. Ihr Bild, das meinem Herzen immerdar gegenwärtig war, gönnte keinem anderen darin Platz. Sie war für mich die einzige Frau, die es auf Erden gab, und da die ungemeine Süßigkeit der Gefühle, die sie mir einflößte, meiner Sinnlichkeit nicht die Zeit ließ, sich für Andere zu erregen, schützte sie mich vor ihr selber und ihrem ganzen Geschlechte. Kurz, ich war keusch, weil ich sie liebte. Möge nach diesen Wirkungen, die ich nur flüchtig andeute, wer es im Stande ist, sagen, welcher Art mein Verhältnis zu ihr war. Alles, was ich für meine Person darüber sagen kann, ist, daß wenn es jetzt schon sehr außergewöhnlich zu sein scheint, es später diesen Anschein noch weit mehr erhalten wird. [...] (3. Buch)

Auf seinen Reisen trifft Rousseau wieder mit der Geliebten seiner Jugend zusammen:
War das die nämliche, ehemals so glänzende Frau von Warens, an die mich der Pfarrer Pontverre gewiesen hatte? Wie tief mein Herz betrübt war! Ich sah für sie keinen andern Ausweg mehr, als ihre jetzige Heimat zu verlassen. Ich wiederholte ihr auf das lebhafteste, aber vergebens die dringenden Bitten, die ich in meinen Briefen wiederholentlich an sie gerichtet hatte, zu mir zu kommen und in Ruhe bei mir zu leben; ich versprach ihr, meine und Theresens Lebenstage dem Streben zu weihen, die ihrigen glücklich zu machen. Immer nur an ihre Pension denkend, von der sie, obgleich sie pünktlich ausgezahlt wurde, schon lange nichts mehr bezog, hörte sie nicht auf mich. Ich schenkte ihr noch einen kleinen Theil meines Geldes, weit weniger als ich gesollt und ihr auch gewiß gegeben hätte, wenn ich nicht völlig davon überzeugt gewesen wäre, daß sie auch nicht einen einzigen Sou davon für ihren eigenen Nutzen verwenden würde. Während meines Aufenthalts in Genf machte sie eine Reise ins Chablais und besuchte mich in Grange-Canal. Es fehlte ihr an dem nöthigen Reisegelde; ich hatte nicht so viel bei mir, als erforderlich war, und sandte es ihr eine Stunde darauf durch Therese. Arme Mama! Man gestatte mir, noch diesen Zug ihres Herzens zu erzählen. Als letztes Kleinod war ihr nur ein kleiner Ring geblieben. Sie zog ihn vom Finger, um ihn an den Theresens zu stecken, welche ihn sofort wieder auf den ihrigen streifte, wobei sie diese edle Hand, die sie mit ihren Thränen netzte, küßte. Ach, damals war der richtige Augenblick, meine Schuld abzutragen. Ich mußte alles verlassen, ihr zu folgen, mich bis zu ihrer letzten Stunde nicht wieder von ihr trennen und ihr Loos theilen, wie es sich auch gestalten mochte. Ich that nichts davon. Abgezogen durch ein anderes Liebesverhältnis, fühlte ich, wie meine Anhänglichkeit an sie nachließ, da mir die Hoffnung fehlte, daß sie ihr noch zum Heile gereichen könnte. Ich seufzte über sie und folgte ihr nicht. Von allen Gewissensbissen, die ich im Leben empfunden, ist dies der nagendste und am längsten anhaltende. (8. Buch)

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