Während ich in Chenonceaux dick wurde, ging mit meiner armen Therese in Paris dieselbe Veränderung, wenn auch auf andere Weise, vor sich, und als ich zurückkam, fand ich das Werk, das ich in diesem Berufszweige geleistet hatte, weiter vorgerückt, als ich geglaubt. In Anbetracht meiner Lage würde mich dies in unendliche Verlegenheit versetzt haben, wenn mir nicht meine Tischgenossen den einzigen Ausweg, der mich ihr entreißen konnte, gezeigt hätten. Ich habe etwas so Wichtiges zu bekennen, daß ich nicht einfach genug dabei zu Wege gehen kann, weil ich mich durch irgend eine erläuternde Erklärung der zu berichtenden Thatsache entschuldigen oder anklagen müßte und ich hier weder das Eine noch das Andere thun darf.
[...] ich bildete meine Denkweise nach der, welche ich bei sehr liebenswürdigen und im Grunde auch sehr anständigen Leuten herrschen sah, und sagte mir: »Da es einmal Sitte des Landes ist, so kann man sie, wenn man darin lebt, auch befolgen.« Das war der Ausweg, nach dem ich suchte. Ich ergriff ihn entschlossen ohne das geringste Bedenken. Nur Theresens Bedenklichkeit hatte ich zu überwinden, die ich erst mit aller erdenklichen Mühe zur Annahme dieses einzigen Mittels, ihre Ehre zu retten, bewegen konnte. Da mir ihre Mutter, die sich überdies vor neuen Kindersorgen fürchtete, zu Hilfe kam, ließ sie sich endlich besiegen. Man wählte eine gewandte und zuverlässige Hebamme, eine gewisse Gouin, ledigen Standes, die an der Ecke von Saint-Eustache wohnte, um ihr die Ausführung des Planes zu übertragen, und als die Zeit gekommen war, wurde Therese von ihrer Mutter zu der Gouin geführt, um bei dieser ihre Entbindung abzuwarten. Ich besuchte sie dort öfter und brachte ihr zwei Karten mit dem gleichen Namenszuge, deren eine in die Windeln des Kindes gelegt wurde. Darauf wurde letzteres von der Hebamme in der gewöhnlichen Weise auf dem Bureau des Findelhauses abgegeben. Im folgenden Jahre der nämliche Uebelstand und das nämliche Auskunftsmittel, nur der Namenszug wurde fortgelassen; keine größere Bedenklichkeit meinerseits; keine größere Lust seitens der Mutter, auf diesen Wunsch einzugehen; sie gehorchte seufzend. Man wird späterhin alle Wandlungen, welche dieser unselige Schritt in meiner Denkweise wie in meinem Leben hervorgebracht hat, kennen lernen. Halten wir uns für jetzt an diesen ersten Zeitabschnitt. Die eben so bitteren und unerwarteten Folgen desselben werden mich nur zu sehr zwingen, darauf zurückzukommen. [...] (7. Buch)
Diese Unmöglichkeit, die wenige Zeit, die ich frei hatte, zwischen meinen Neigungen zu theilen, erneuerte lebhafter als je den Wunsch, den ich längst hegte, mit Therese nur einen gemeinschaftlichen Haushalt zu führen; [...] als Frau Dupin vernahm, daß ich die Absicht hatte, mir eigene Möbel anzuschaffen, kam sie mir auch hierbei zu Hilfe. Wir legten nun das alles mit den Möbeln, welche Therese bereits besaß, zusammen, und nachdem wir eine kleine Wohnung im Hotel de Languedoc, in der Straße Grenelle Saint-Honoré, bei sehr guten Leuten gemiethet hatten, richteten wir uns darin, so gut wir konnten, ein und haben dort sieben Jahre lang bis zu meiner Uebersiedelung nach der Eremitage friedlich und angenehm gewohnt.
Theresens Vater war ein ältlicher, gutmüthiger und sehr freundlicher Herr, der sich vor seiner Frau außerordentlich fürchtete und ihr den Spitznamen Kriminallieutenant gegeben hatte, eine Benennung, die Grimm späterhin scherzweise auf die Tochter übertrug. Der Frau Le Vasseur fehlte es nicht an Geist; sie war sogar auf ihre Bildung und ihr vornehmes Wesen stolz; aber sie hatte etwas Geheimthuerisches und Einschmeichelndes an sich, das mir unerträglich war, da sie ihrer Tochter ziemlich schlechte Rathschläge ertheilte, sie zur Verstellung gegen mich anhielt und meinen Freunden, einem jeden allein und immer auf meine und der andern Kosten, zu gefallen suchte. Im Uebrigen war sie eine ziemlich gute Mutter, da sie ihre Rechnung dabei fand, es zu sein, und verdeckte die Fehler ihrer Tochter, weil sie von ihnen Nutzen hatte. [...]
Uebrigens kann ich sagen, daß ich während dieser sechs oder sieben Jahre das vollkommenste häusliche Glück, welches die menschliche Schwäche gestattet, genossen habe. Das Herz meiner Therese war das eines Engels; unsere Neigung nahm mit der Innigkeit unserer Verbindung zu, und wir fühlten von Tage zu Tage mehr, wie sehr wir für einander geschaffen waren. Wenn unsere Freuden geschildert werden könnten, würden sie durch ihre Einfachheit Lachen erregen: unsere Spaziergänge im traulichen Zwiegespräche außerhalb der Stadt, wo ich in irgend einer Schenke großartig acht oder zehn Sous verthat; unsere kleinen Abendessen in der Fensternische, bei denen wir auf zwei kleinen Stühlen einander gegenüber saßen. Sie standen auf einem Koffer, der gerade in die Nische hineinpaßte. Das Fensterbrett mußte uns hierbei als Tisch dienen, und bei stetem Essen athmeten wir die frische Luft ein, konnten die Umgegend überschauen, die in ihr Umherwandernden sehen und, obwohl wir im vierten Stock wohnten, auf die Straße hinabblicken. Wer vermag den Reiz dieser Mahlzeiten zu schildern und zu empfinden, deren sämmtliche Gerichte aus einem Viertellaib groben Brotes, einigen Kirschen, einem Stückchen Käse und aus einem halben Schoppen Wein, den wir gemeinschaftlich tranken, bestanden? Freundschaft, Vertrauen, Innigkeit, Seelenruhe, wie lieblich sind eure Reize! (8. Buch)
Während ich über die Pflichten des Menschen philosophirte, brachte mich ein Ereignis zum bessern Nachdenken über meine eigenen. Therese wurde zum dritten Male schwanger. Zu aufrichtig gegen mich selbst, zu stolzen Herzens, um meine Grundsätze durch meine Handlungen verläugnen zu wollen, begann ich das Loos meiner Kinder und mein Verhältnis mit ihrer Mutter nach den Gesetzen der Natur, der Gerechtigkeit, der Vernunft und jener reinen heiligen Religion zu untersuchen, die, trotzdem sie ewig wie ihr Stifter ist, die Menschen befleckt haben, während sie sich stellten, als ob sie sie reinigen wollten, und aus der sie durch ihre Glaubensformeln nur eine Wortreligion gemacht haben, da es ja wenig kostet, das Unmögliche zu befehlen, wenn man sich selbst von der Ausführung desselben entbindet.
Täuschte ich mich in meinen Ergebnissen, so ist dabei nichts erstaunlicher als die Seelenruhe, mit der ich mich ihnen überließ. Wäre ich einer jener schlecht gesinnten Menschen, die taub gegen die süße Stimme der Natur sind, in deren Herzen nie ein wahres Gefühl für Gerechtigkeit und Menschlichkeit erwachte, so würde eine solche Verhärtung ganz einfach sein; aber diese Herzenswärme, diese so lebhafte Menschenfreundlichkeit, diese Leichtigkeit, freundliche Verhältnisse anzuknüpfen, diese Gewalt, mit der sie mich beherrschen, diese bittre Herzenstrauer, wenn ich sie lösen muß, dieses angeborene Wohlwollen für meine Mitmenschen, diese glühende Liebe für das Große, das Wahre, das Schöne, das Rechte; dieser Abscheu vor jeglichem Schlechten, diese Unmöglichkeit zu hassen und zu schaden, ja es auch nur zu wünschen; diese gerührte Stimmung, diese lebhafte und süße Erregung, die ich beim Anblicke von allem, was tugendhaft, edelmüthig und liebenswürdig ist, empfinde: kann sich wohl dies alles in derselben Seele mit der sittlichen Verdorbenheit vertragen, welche die süßeste der Pflichten rücksichtslos mit Füßen tritt? Nein, ich bin davon überzeugt und behaupte es laut: es ist nicht möglich. Nicht einen einzigen Augenblick in seinem Leben hat Jean Jacques ein Mensch ohne Gefühl, ohne Herz, hat er ein unnatürlicher Vater sein können. Ich bin im Stande gewesen, mich zu irren, aber nicht, mich zu verhärten. Wenn ich meine Gründe sagte, würde ich damit zu viel sagen. Da sie mich zu verführen vermochten, würden sie auch viele andere verführen. Ich will junge Leute, die mich lesen könnten, nicht der Gefahr aussetzen, sich von demselben Irrthume täuschen zu lassen. Ich werde mich begnügen zu sagen, er bestand darin, daß ich, als ich meine Kinder der öffentlichen Erziehung überließ, weil ich sie nicht selbst zu erziehen vermochte, und sie lieber dazu bestimmte, Handwerker und Landleute als Abenteurer und Glücksjäger zu werden, als Bürger und Vater zu handeln glaubte und mich als ein Mitglied der Republik Platos betrachtete. Seitdem hat mir die Reue meines Herzens mehr als einmal gesagt, daß ich mich geirrt hatte, aber weit davon entfernt, daß meine Vernunft die gleiche Sprache gegen mich geführt hätte, habe ich oft den Himmel gesegnet, sie dadurch vor dem Loose ihres Vaters und vor dem bewahrt zu haben, das ihnen drohte, wenn ich später gezwungen gewesen wäre, meine Hand von ihnen abzuziehen. Hätte ich sie der Frau von Epinay oder der Frau von Luxembourg überlassen, die sich sei es aus Freundschaft, sei es aus Edelmuth oder aus irgend einem andern Grunde später ihrer haben annehmen wollen, wären sie wohl zu gesitteten und gebildeten Leuten erzogen worden? Ich weiß es nicht; aber davon bin ich überzeugt, daß man sie zum Hasse, vielleicht zum Verrathe ihrer Eltern getrieben hätte; es ist hundertmal besser, daß sie sie gar nicht gekannt haben.
Mein drittes Kind wurde also eben so wie die beiden ersten dem Findelhause übergeben, und auch die beiden folgenden traf dasselbe Loos, denn ich hatte in allem fünf Kinder. Diese Maßregel kam mir so gut, so verständig, so gesetzmäßig vor, daß ich mich ihrer nur aus Rücksicht auf die Mutter nicht offen rühmte; aber ich erzählte sie allen, die um unser Verhältnis wußten; ich erzählte sie Diderot und Grimm, ich setzte später Frau von Epinay und noch später Frau von Luxembourg davon in Kenntnis, und zwar offen, frei, ganz ungezwungen, und während ich sie leicht aller Welt hätte verhehlen können, denn die Gouin war eine ehrliche und sehr verschwiegene Frau, auf die ich mich vollkommen verlassen durfte. [...] Auf die Verschwiegenheit der Frau Dupin und auf die Freundschaft der Frau von Chenonceaux kann ich mich verlassen; ich konnte auch auf die der Frau von Francueil rechnen, die übrigens lange vor dem Bekanntwerden meines Geheimnisses starb. Die Verbreitung desselben konnte nur von den nämlichen Leuten ausgehen, denen ich es anvertraut hatte, und sie geschah auch wirklich erst nach meinem Bruche mit ihnen. Durch diese Thatsache allein sind sie gerichtet; ohne den verdienten Tadel zurückweisen zu wollen, will ich doch lieber die Schwere desselben tragen, als unter der Last des Vorwurfes zusammensinken, den ihre Bosheit verdient. Mein Fehler ist groß, aber er ist die Folge eines Irrthums; meine Pflichten habe ich vernachlässigt, aber von dem Wunsche zu schaden ist meine Seele frei geblieben und das Vaterherz kann für Kinder, die man nie gesehen hat, nicht sehr laut sprechen; aber das Vertrauen der Freundschaft verrathen, den heiligsten aller Verträge verletzen, die uns anvertrauten Geheimnisse veröffentlichen, den Freund, den man getäuscht hat, und der uns noch achtet, wenn er sich auch von uns trennt, entehren, das sind nicht Fehler, das sind Niederträchtigkeiten und Bosheiten.
Ich habe meine Bekenntnisse und nicht meine Rechtfertigung versprochen; deshalb breche ich hier über diesen Punkt ab. Meine Pflicht ist, wahr, die des Lesers, gerecht zu sein. Mehr werde ich nie von ihm verlangen.
(8. Buch 1750-1752)
Auf seinen Reisen trifft Rousseau wieder mit der Geliebten seiner Jugend zusammen:
War das die nämliche, ehemals so glänzende Frau von Warens, an die mich der Pfarrer Pontverre gewiesen hatte? Wie tief mein Herz betrübt war! Ich sah für sie keinen andern Ausweg mehr, als ihre jetzige Heimat zu verlassen. Ich wiederholte ihr auf das lebhafteste, aber vergebens die dringenden Bitten, die ich in meinen Briefen wiederholentlich an sie gerichtet hatte, zu mir zu kommen und in Ruhe bei mir zu leben; ich versprach ihr, meine und Theresens Lebenstage dem Streben zu weihen, die ihrigen glücklich zu machen. Immer nur an ihre Pension denkend, von der sie, obgleich sie pünktlich ausgezahlt wurde, schon lange nichts mehr bezog, hörte sie nicht auf mich. Ich schenkte ihr noch einen kleinen Theil meines Geldes, weit weniger als ich gesollt und ihr auch gewiß gegeben hätte, wenn ich nicht völlig davon überzeugt gewesen wäre, daß sie auch nicht einen einzigen Sou davon für ihren eigenen Nutzen verwenden würde. Während meines Aufenthalts in Genf machte sie eine Reise ins Chablais und besuchte mich in Grange-Canal. Es fehlte ihr an dem nöthigen Reisegelde; ich hatte nicht so viel bei mir, als erforderlich war, und sandte es ihr eine Stunde darauf durch Therese. Arme Mama! Man gestatte mir, noch diesen Zug ihres Herzens zu erzählen. Als letztes Kleinod war ihr nur ein kleiner Ring geblieben. Sie zog ihn vom Finger, um ihn an den Theresens zu stecken, welche ihn sofort wieder auf den ihrigen streifte, wobei sie diese edle Hand, die sie mit ihren Thränen netzte, küßte. Ach, damals war der richtige Augenblick, meine Schuld abzutragen. Ich mußte alles verlassen, ihr zu folgen, mich bis zu ihrer letzten Stunde nicht wieder von ihr trennen und ihr Loos theilen, wie es sich auch gestalten mochte. Ich that nichts davon. Abgezogen durch ein anderes Liebesverhältnis, fühlte ich, wie meine Anhänglichkeit an sie nachließ, da mir die Hoffnung fehlte, daß sie ihr noch zum Heile gereichen könnte. Ich seufzte über sie und folgte ihr nicht. Von allen Gewissensbissen, die ich im Leben empfunden, ist dies der nagendste und am längsten anhaltende. (8. Buch)
Ich habe den Tag, der mich mit meiner Therese verband, stets als denjenigen betrachtet, der mein sittliches Sein bestimmte. Ich hatte das Bedürfnis nach einem Liebesverhältnis, da das, welches mir hätte genügen müssen, endlich so grausam zerrissen war. Der Durst nach Glück erlöscht im Herzen des Menschen nicht. Mama wurde alt und sank mehr und mehr. Ich hielt es für erwiesen, daß sie hienieden nicht mehr glücklich werden konnte. Folglich mußte ich mir ein eigenes Glück suchen, nachdem ich jede Hoffnung verloren hatte, je das ihrige zu theilen. [...] Der sanfte Charakter dieses guten Mädchens schien mir so wohl zu dem meinigen zu passen, daß ich mich an sie mit einer Liebe anschloß, die Zeit und Anfechtungen nicht zu erschüttern vermochten, und die alles, was sie hätte ertödten müssen, stets nur noch mehr steigerte. Man wird späterhin die Kraft dieser Liebe erkennen, wenn ich die Wunden, das tiefe Weh enthüllen werde, womit man mein Herz auf dem höchsten Punkte meines Elends zerrissen hat, ohne daß mir bis zu dem Augenblicke, da ich dies niederschreibe, gegen irgend jemanden auch nur ein einziges Wort der Klage entschlüpft wäre.
Wenn man erfahren wird, daß ich, nachdem ich alles gethan, allem getrotzt hatte, um mich nicht von ihr zu trennen, nach fünfundzwanzig mit ihr verlebten Jahren, dem Schicksal und den Menschen zum Trotz sie endlich noch in meinen alten Tagen gegen ihre Hoffnung und ohne ihr Verlangen, und ohne meine Zusage oder Versprechen geheirathet habe, so wird man glauben, daß mich eine wahnsinnige Liebe, die mir schon am ersten Tage den Kopf verdreht, schrittweise bis zur letzten Thorheit geführt habe, und man wird es um so mehr glauben, wenn man die besonderen und entscheidenden Gründe vernimmt, welche mich hätten zurückhalten müssen, je dahin zu gelangen. Was wird demnach der Leser denken, wenn ich ihm mit all der Wahrhaftigkeit, die er jetzt an mir kennen muß, versichere, daß ich vom ersten Augenblicke an, da ich sie sah, bis zu dem heutigen Tage nie den geringsten Funken von Liebe für sie gefühlt habe, daß ich kein größeres Verlangen gehegt, sie zu besitzen als Frau von Warens und daß die sinnlichen Bedürfnisse, deren Befriedigung ich bei ihr fand, für mich einzig und allein die des Geschlechtstriebes waren, ohne mit der Person irgend etwas zu thun zu haben? Er wird denken, daß ich, anders organisirt wie andere Männer, unfähig war, Liebe zu empfinden, weil sie nicht in die Gefühle überging, die mich an die mir theuersten Frauen fesselten. Geduld, mein Leser! Der unselige Augenblick naht, wo du nur allzu sehr enttäuscht sein wirst.
Man sieht, ich wiederhole mich, doch es ist nöthig. Das erste, das größte, das stärkste, das unauslöschlichste aller meiner Bedürfnisse erfüllte ganz und gar mein Herz: es war das Bedürfnis eines innigen Anschlusses, so innig, wie er irgend sein konnte. Deshalb bedurfte ich eher einer Frau als eines Mannes, eher einer Freundin als eines Freundes. Dieses eigenthümliche Bedürfnis war so gewaltig, daß es die engste leibliche Verbindung noch nicht zu befriedigen vermochte; ich hätte zwei Seelen in demselben Leibe nöthig gehabt; ohne dies fühlte ich stets eine Leere. Damals glaubte ich sie nicht mehr zu fühlen. Diese junge, durch tausend treffliche Eigenschaften und zu jener Zeit sogar durch ihr Aeußeres liebenswürdige Person, völlig ungekünstelt und ohne alle Koketterie, würde allein mein ganzes Dasein ausgefüllt haben, hätte ich, wie ich gehofft, das ihrige auszufüllen vermocht. Von Seiten der Männer hatte ich nichts zu fürchten; ich bin überzeugt, der einzige zu sein, den sie wahrhaft geliebt hat, und ihre nicht sehr rege Sinnlichkeit hat schwerlich Verlangen nach andern gehabt, selbst als ich bereits aufgehört, in dieser Beziehung für sie ein Mann zu sein. Ich hatte keine Familie, sie dagegen hatte eine, und diese Familie, deren sämmtliche Charaktere zu sehr von dem ihrigen abwichen, zeigte sich nicht der Art, daß ich sie hätte zu der meinigen machen können. Darin lag die erste Ursache meines Unglücks. Was würde ich nicht darum gegeben haben, ihre Mutter als die meinige betrachten zu können! Ich that alles, um dahin zu gelangen und konnte dennoch nicht zum Ziele kommen. Vergeblich hatte ich den Wunsch, alle unsere Interessen zu vereinigen, es war mir unmöglich. Sie verfolgte stets ein anderes, dem meinigen und sogar dem ihrer Tochter entgegengesetztes, das von dem meinigen ja bereits unzertrennlich war. Sie und ihre anderen Kinder und Enkel wurden eben so viele Blutegel, deren geringstes Unrecht, welches sie Therese zufügten, darin bestand, daß sie sie bestahlen. Das arme Mädchen, gewöhnt sich selbst vor ihren Nichten zu beugen, ließ sich, ohne ein Wort zu sagen, ausplündern und beherrschen, und mit Schmerz sah ich, daß ich mein Geld und meine Lehren vergebens verschwendete, da ich damit nichts bei ihr erreichte. Ich suchte sie von ihrer Mutter zu trennen; sie widerstand dem beständig. Ich achtete ihren Widerstand und schätzte sie um so mehr; allein ihre Weigerung gereichte ihr und mir darum nicht weniger zum Nachtheile. Ihrer Mutter und den Ihrigen hingegeben, gehörte sie ihnen mehr als mir, ja mehr als sich selbst. Die Habgier derselben war ihr weniger verderblich als ihre Nachschlage. Wenn sie auch Dank ihrer Liebe zu mir und Dank ihrem guten Charakter nicht vollkommen unterjocht wurde, so war es doch wenigstens genügend, um großentheils die Wirkung der guten Grundsätze zu beeinträchtigen, die ich mich ihr beizubringen bemühte, war genügend, daß wir, wie ich es auch anfangen mochte, nach wie vor stets zwei geblieben sind.
Auf diese Weise wurde bei einer aufrichtigen und gegenseitigen Neigung, in die ich die ganze Zärtlichkeit meines Herzens gelegt hatte, die Leere dieses Herzens doch nie ganz ausgefüllt. Kinder, durch welche es geschehen wäre, kamen; es wurde noch schlimmer. Ich schauderte, sie dieser schlecht erzogenen Familie zu überlassen, um noch schlechter erzogen zu werden. Die Gefahren der Erziehung, welche Findlingen zu Theil wurde, waren weit geringer. Obgleich dieser Grund zu dem von mir gefaßten Entschlüsse stärker war als alle, welche ich in meinem Briefe an Frau von Francueil aufführte, so war er doch der einzige, den ich ihr nicht zu nennen wagte. Lieber wollte ich mich einer so schweren Anschuldigung gegenüber nicht ganz rechtfertigen, um die Familie einer Person, die ich liebte, zu schonen. Aber nach dem Wandel ihres unglücklichen Bruders kann man urtheilen, ob ich, was man auch darüber sagen könnte, meine Kinder dem aussetzen durfte, eine der seinigen ähnliche Erziehung zu erhalten. [...]
Ein zwölfjähriges Liebesverhältnis hatte nicht mehr viele Worte nöthig; wir kannten uns zu genau, um uns noch etwas mitzutheilen zu haben. So sahen wir uns auf Klatschereien, Lästerreden und Gemeinplätze angewiesen. Gerade in der Einsamkeit fühlt man den Vortheil, an der Seite jemandes zu leben, der zu denken versteht. Ich bedurfte dieses Hilfsmittels nicht, um mich bei ihr zu gefallen; sie dagegen würde es bedurft haben, um sich immer bei mir wohl zu fühlen. Das Schlimmste war, daß wir immer nur im Geheimen zusammenkommen konnten; ihre Mutter, die mir unerträglich geworden war, zwang mich, mich heimlich zu ihr zu stehlen. In meinem eigenen Hause lebte ich unter stetem Zwange; damit ist alles gesagt; der freundschaftliche Verkehr litt unter dem Liebesverhältnis. Wir hatten einen vertrauten Umgang, ohne in Vertraulichkeit zu leben.
Sobald ich wahrzunehmen glaubte, daß Therese mitunter Vorwände suchte, um sich den Spaziergängen, die ich ihr vorschlug, zu entziehen, hörte ich auf, sie ihr vorzuschlagen, ohne mich unangenehm berührt zu fühlen, daß sie nicht gleich großes Gefallen als ich daran fand. Die Freude hängt nicht vom Willen ab. Ich war ihres Herzens sicher, und das war mir genügend. So lange meine Vergnügungen die ihrigen waren, genoß ich sie mit ihr; als dies nicht mehr der Fall war, zog ich ihre Zufriedenheit der meinten vor.
Hierin lag der Grund, daß ich in meiner Hoffnung halb getäuscht, obgleich ich ein Leben nach meinem Geschmacke an einem Orte meiner Wahl und noch dazu an der Seite einer Person führte, die mir theuer war, trotzdem dahin gelangte, mich fast alleinstehend zu fühlen. Was ich entbehrte, machte mich unfähig, das zu genießen, was ich hatte. Zum Glücke und zum Genusse hatte ich alles oder nichts nöthig. Man wird sehen, weshalb ich diese ausführliche Darlegung für nothwendig gehalten habe. (9. Buch)
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