14 September 2017

Johnson: Jahrestage 9. September

9. September, 1967    Sonnabend
Fast herrscht Gerechtigkeit in New York an diesem Morgen. Die Luft steht still. Die Luft kann sich nicht rühren unter unbeweglichen Wärmemassen in der oberen Atmosphäre, sie kann seit gestern nicht mehr in die Kälte steigen und den Schmutz loswerden, den die Stadt in sie pumpt aus Kraftwerken, Gasanstalten, Heizschornsteinen, Automotoren, Düsenaggregaten und Dampfern: die Inversion hat eine undurchlässige Kuppel über die Stadt gestülpt. [...]
Denn Marie geht einkaufen auf dem Broadway an manchen Sonnabenden. Früh morgens schleicht sie auf blanken Füßen an Gesines Bett, stiehlt ihr den Wecker und tapst auf Zehenspitzen zur Tür, die sie gegen behutsam federnde Fingerspitzen einschnappen läßt, wenngleich sie ahnt, daß Gesine den Atem anhielt wie ein wacher Mensch und längst auf dem Rücken liegt, die Arme im Nacken verschränkt, horchend.
Denn vor sechs Jahren die Vierjährige klammerte sich fest an Gesine vor den Schwingtüren zum Kindergarten, trommelte schreiend vor Wut gegen die Türen des Fahrstuhls, in dem die Mutter verschwunden war, legte sich während der Spielstunden oft schweigend und traurig, Zureden nicht zugänglich, auf den Fußboden des Klassenzimmers, das Gesicht zur Tür gewandt. Die Erste Erzieherin am Telefon machte Gesine Vorhaltungen, und nach drei Wochen brachte sie eine Liste der nötigsten Worte, die das Kind nicht hatte lernen wollen. Darunter waren solche wie Hand und Fuß, aufstehen, anfassen, suchen, und Gesine fing an, westdeutsche Zeitungen zu kaufen, wegen Stellenangeboten. Auf das Englisch, das sie sprach, hörte das Kind mit höflich verkniffenen Blicken, die sie nicht aus dem Auge ließen, und sie verstand, daß für Marie das Englisch die äußere Welt bedeutete, das Fremde, das nicht auch noch in diese Wohnung kommen sollte. Sie mochte dem Kind aber keine Belohnung fürs Lernen versprechen. Sie untersagte sich Mitleid, wenn sie das Kind allein zu dem Eisauto am Eingang des Parks schickte und ansehen mußte, wie Marie, die Hände mit dem Vierteldollar im Rücken verkrampft, für jeden Schritt voran einen halben zurück tat, abgedrängt von den anderen Kindern, vom Eishändler erst bemerkt, wenn er sich schon zum Weiterfahren gewandt hatte. Marie verleugnete sogar das Englisch, das sie wußte. Sie ließ die Verkäuferin im Supermarkt einen Papierdollar vor sie hinlegen mit der Frage: wer der in der Mitte dargestellte feiste würdige Herr sei, und obwohl die Kundinnen hinter ihr laut oder zischelnd einsagten, wartete Marie finster und schweigend ab, ob diese Leute endlich nachgaben und Deutsch sprachen. (Auf der Straße sagte sie empört: George Washington! als ob ich das nicht wüßte! ich kannte doch keine einzige von den Damen!) Für sie war das eine Probe auf ihr Selbstbewußtsein gewesen. Erst auf einem Ausflug hudsonaufwärts, als sie sich von zwei Jungen hineinziehen ließ in Fangspiele auf den Gängen und Treppen des mehrstöckigen, hausähnlichen Dampfers, verriet sie sich und rannte blicklos zwischen den Stuhlreihen hindurch vorbei an Gesine und sagte zu ihr wie zu einer Fremden: Excuse me! und ließ sich später finden auf den Stufen zur Brücke, wo sie den verblüfften Jungen erzählte von Düsseldorf und dem Rhein in einem sprudelnden Gemisch aus deutschen Wortstummeln und akustischen Kurven, in die sie die Satzmelodie der Rundfunksprecher übersetzt hatte. Aber die Jungen flogen am Abend zurück in ihre flußlose Stadt in Ohio, und Marie wurde von Kindern auf dem Spielplatz angerempelt und gebufft wegen der dicklippigen, brummenden Laute, die sie für amerikanische Währung hielt. Die Kinder hatten aus Fernsehfilmen gelernt, wie man den steifen Arm gegen die Wand stützt und eine Ecke für ein Opfer macht, und Gesine ging hinein in das Gerangel und griff ihr Kind heraus, weil es sich nicht wehrte.
Aber die Marie, die jetzt die Vorrate für eine ganze Woche zwischen den klirrenden Türgittern des Fahrstuhlschachts herausführt, ist verstrickt in ein lauthalsiges Gespräch mit Mr. Robinson, und wieder läßt Mr. Robinson die Kabine offen stehen und prägt sich ein, wie das Kind in die Cresspahlsche Wohnung dringt und noch einmal erzählt von dem Stadtstreicher, der ihr auf dem Broadway die Einkaufskarre auszuräumen versuchte. And I did not bother with being a lady! Das Kind ist bei Schustek nicht von den Gehilfen, sondern von Herrn Schustek in Person bedient worden, und sie kostete drei Sorten von seiner Wurst, bevor sie kaufte. [...] Heute hat das Kind jene Verkäuferin, an deren Kasse sie einmal die Auskunft über George Washington verweigerte, ertappt bei zuviel gedrückten 21 Cent, und die Kassiererin hat sich ohne Geschrei entschuldigt vor dem Kind und den Kundinnen in Hörweite. Das Kind versucht Gesine anzudeuten, welches Gesicht eine Kundin in Hörweite zog, die bisher nur sich den Mund fußlig redete über die Schummelei an den Kassen und nun aufgebracht ist über eine Zehnjährige, die den Schwindel nachweist; der säuerliche Ekel der Matrone verzieht dem Kind das Gesicht bis unter die Haare. Und das Kind hat die heutige New York Times nicht vergessen, einen säuberlichen Ballen, unverrückt im Maschinenknick, das Bewußtsein des Tages. Sie legt das Papier neben Gesines Frühstück wie ein Geschenk.
Der Kriegsminister will nicht ausschließen, daß Rotchina in den Südostasienkrieg eintritt. Jedoch würde er das für einen sehr schlecht beratenen Entschluß halten.
Und erst auf Seite 48, zwischen Finanzen und Immobilien, meldet das besonnene Medium, daß in der ersten Jahreshälfte über 500 Zivilisten in Nord-Viet Nam durch amerikanische Angriffe getötet wurden, durch 77 000 Tonnen Sprengstoffe allein im März.
– Und die 21 Cent: sagt das Kind nach einer Weile Abrechnens, mit seiner rauhen, katarrhalischen Stimme, die sechs Jahre in der verdorbenen Luft New Yorks ihm eingetragen haben: die 21 Cent habe ich den Bettlern gegeben, dem mit den blauen Haaren sechzehn, und dem an der 98. Straße fünf.

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