04 September 2017

Tifan als ein Beispiel für einen vorbildlichen Herrscher (in: Wieland: Der goldene Spiegel)

"Tifan, der Wiederhersteller seines Vaterlandes, Tifan, der Gesetzgeber, der Held, der Weise, der Vater seines Volkes, der geliebteste und der glücklichste unter allen Königen, – mit dessen Geschichte ich im Begriff bin den Sultan meinen Herrn zu unterhalten, würde wahrscheinlicher Weise alles dies nicht gewesen sein, wenn er an dem Hofe seines Vetters Isfandiar, oder an irgend einem andern asiatischen Hofe seiner Zeit, wäre gebildet worden.


Von der Natur selbst auf ihrem Schoße erzogen, fern von dem ansteckenden Dunstkreise der großen Welt, in einer Art von Wildnis, zu einer kleinen Gesellschaft von unverdorbenen, arbeitsamen und mäßigen Menschen verbannt, ohne einen Schatten von Vermutung, daß er mehr sei als der geringste unter ihnen, brachte er die ersten dreißig Jahre seines Lebens in einem Stande zu, worin sein Herz, ohne es zu wissen, zu jeder königlichen Tugend gebildet wurde.
Dieses sonderbare Glück, ohne welches er schwerlich der Stifter der allgemeinen Glückseligkeit seiner Nation geworden wäre, hatte Tifan der Grausamkeit Isfandiars und einem andern eben so glücklichen als ungewöhnlichen Zufalle zu danken: nämlich, dem Umstande, daß seine erste Jugend dem einzigen tugendhaften Manne, der vielleicht damals im ganzen Scheschian lebte, anvertraut worden war. [dem weisen Dschengis ...]

Der junge Prinz hatte nun die Jahre erreicht, wo die Natur durch die Entwicklung des süßesten und mächtigsten aller unsrer Triebe gleichsam die letzte Hand an ihr Werk, an den Menschen legt, und indem sie ihn durch das nämliche Mittel zum Urheber seiner eigenen Glückseligkeit und der Erhaltung seiner Gattung macht, ihn auf die überzeugendste Weise belehrt, sie habe sein besonderes Glück mit dem allgemeinen Besten dergestalt verwebt, daß es unmöglich sei, eines von dem andern abzulösen ohne beide zu zerstören. Die Liebe, – dieser bewundernswürdige Instinkt, den die Natur zur stärksten Triebfeder der besondern und allgemeinen Glückseligkeit der Menschen bestimmt hat, [...] 
(Wieland: Der goldene Spiegel 2. Teil Kapitel 5)


Die Größe und Erhabenheit, wozu Dschengis die Begriffe seines Lehrlings empor zu treiben sich bemüht hatte, machten es notwendig, daß er ihm zu gleicher Zeit eine vollständige Kenntnis von dem gesellschaftlichen Leben, von dem was man einen Staat nennt, und von der Einrichtung, Polizei und Verwaltung desselben geben mußte. Er tat es: und nachdem er dem jungen Tifan gezeigt hatte, wie dieser Erdball, vermöge der richtigen Begriffe von der Natur und Bestimmung des Menschen, aussehen und regiert sein sollte; so machte er ihm nach und nach begreiflich, wie es zugehen könnte, daß alles ganz anders wäre als es sein sollte. Von dem anschauenden Begriffe der kleinen Kolonie, in welcher er aufgewachsen war, brachte er ihn stufenweise bis zu dem verwickelten Begriff einer großen Monarchie, von dem ländlichen Hausvater bis zu dem großen Hausvater von Scheschian. Der Prinz folgte ihm in allen diesen Erörterungen ohne sonderliche Mühe. Aber desto größere Schwierigkeit hatte es, ihm begreiflich zu machen, wie aus dem allgemeinen Vater einer Nation ein willkürlich gebietender Herr, und aus diesem Herren, mit einer kleinen Veränderung, ein Tyrann habe werden können.
Der junge Prinz erschrak nicht wenig, wie er vernahm, daß die schönen Ideen von unschuldigen Menschen und goldnen Zeiten, die mit ihm aufgewachsen waren, nur goldne Träume seien, aus denen ihn eine kleine Reise durch die Welt auf eine sehr unangenehme Art erwecken würde.
Sein Verlangen eine Reise, welche ihn so viel Neues lehren würde, zu machen, nahm mit der heftigsten Begierde, allen Drangsalen seiner Mitgeschöpfe abzuhelfen, täglich zu; und Dschengis trug um so weniger Bedenken, diesem Verlangen nachzugeben, je notwendiger es war, ihm eine ausführliche und anschauende Kenntnis von allen den Mißbräuchen, Unordnungen und daher erwachsenden Übeln zu verschaffen, welchen (wenigstens in einem beträchtlichen Teile des Erdbodens) ein Ende zu machen, seine große Bestimmung war. Überdies hatten die gesunden Grundsätze seiner Erziehung zu tiefe Wurzeln in seiner Seele gefaßt, als daß von der Ansteckung der Welt etwas für ihn hätte zu besorgen sein sollen. Im Gegenteil erwartete er, daß der Anblick alles des mannigfaltigen Elends, welches sich die Menschen durch Entfernung von den Gesetzen der Natur zugezogen haben, den jungen Tifan von der unumgänglichen Notwendigkeit ihrer Befolgung nur desto lebhafter überzeugen werde.
(Wieland: Der goldene Spiegel 2. Teil Kapitel 7)


Dschengis sah mit innerlichem Frohlocken das Feuer, welches in Tifans Seele brannte, und die Entschlossenheit, mit welcher er bereit war, sein Leben für die Sache eines Vaterlandes zu wagen, zu dessen Verteidigung er, als der vermeinte Sohn eines Edeln von Scheschian, einen angebornen Beruf zu haben glaubte, und seine Ungeduld über jeden Tag, der die Ausübung dieser Pflicht verzögerte. Er genoß des reinen und alle andre Wollust übertreffenden Vergnügens, seine großmütigen Bemühungen dem glücklichsten Erfolge sich täglich nähern zu sehen. Er hatte den Sohn eines Fürsten, der sein Freund gewesen war, nicht nur gerettet; er hatte ihn zu einem der besten Menschen gebildet. Jede Tugend, jede Fähigkeit, deren edler Gebrauch den großen Mann macht, entwickelte sich bei der kleinsten Veranlassung in seiner schönen Seele. [...]
Tifan ist kein Geschöpf der Phantasie; es liegt dem ganzen Menschengeschlechte daran, daß er keines sei. Entweder er ist schon gewesen, oder, wenn er (wie ich denke) nicht unter den itzt Lebenden ist, wird er ganz gewiß künftig einmal sein.« »Immerhin«, sagte der Sultan lächelnd: »wenn dein Tifan auch ein Traum wäre, so wollen wir wenigstens sehen, ob es sich vielleicht der Mühe verlohnet, ihn wahr zu machen.« »Ich habe Ihrer Hoheit noch so viel davon zu sagen, was Tifan tat als er König war, daß ich wohl zu tun glaube, desto kürzer über das zu sein, was er tat um es zu werden.« [...]
Aber nachdem es ihm gelungen war, seine Mitbürger mit der Liebe des Vaterlandes zu begeistern, so machte sich alles übrige gleichsam von selbst. [...]

Tifans Taten hatten noch eine andre Eigenschaft mit den Verrichtungen der Natur gemein. Sie entwickelten sich so langsam, sie durchliefen so viele kleine Stufen, und erreichten den Punkt ihrer Reife durch eine so unmerkliche Verbindung unzähliger auf Einen Hauptzweck zusammen arbeitender Mittel, daß man ein schärferes Auge als gewöhnlich haben mußte, um den Geist, der alles dies anordnete und lenkte, und die Hand, welche allem die erste Bewegung gab, nicht zu mißkennen. Eine kurzsichtige Aufmerksamkeit hätte geglaubt, daß sich alles von selbst mache, oder würde wenigstens nicht wahrgenommen haben, wie viel Mühe es kostete, den Bewegungen eines großen Staats so viele Leichtigkeit und eine so schöne Harmonie zu geben." (Wieland: Der goldene Spiegel 2. Teil Kapitel 9)

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