20. September, 1967 Mittwoch
Gestern oder übermorgen vor sechsunddreißig Jahren bekam Papenbrocks jüngste Tochter die Einladung, Leslie Danzmann in Graal zu besuchen. Ihre Betten hatten in der rostocker Töchterschule Kopf an Kopf gestanden, und Leslie Danzmann machte tatsächlich Ferien in Graal. Sie war die Witwe eines Marineoffiziers, und von seiner Pension konnte sie nur die Nachsaison an der Ostsee bezahlen. Leslie Danzmann war gern gefällig.Die Freundin aus Jerichow kam nach dem Frühstück in Graal an und schrieb im Speisesaal des Kurhauses Strandperle Ansichtskarten bis in den späten Nachmittag. Leslie sagte ihr die Ausflüge vor: Moorhof, Wallensteins Lager, Gespensterwald, Forsthaus Markgrafenheide. Als sie wieder auf dem Bahnsteig im Wald standen, umarmten sie einander unverhofft, ein ländliches Mädchen in einem zu groß karierten Jackenkleid und eine bleichhaarige Dame im Tennisdreß, beide überschwenglich, die eine wegen des Freundinnendienstes, die andere, weil sie die Ledige nicht hatte warnen mögen. Dann ging sie zur Post, setzte ihre Unterschrift auf die erste Karte an Papenbrock und steckte sie ein.
[...]
Sie wollte gar nicht ihre Eltern hintergehen; sie wollte ein Geheimnis nicht ausliefern.
Am nächsten Morgen fuhr sie mit der Straßenbahn nach Fuhlsbüttel, holte den bestellten Flugschein ab, stieg in die londoner Maschine, landete in Bremen, landete in Amsterdam, landete neun Stunden später in Croydon bei London, und ließ sich in einer offenen Autodroschke nach Richmond fahren, eine mitgenommene, aufgeregte Touristin, die leicht offenen Mundes auf die vom Dunst des Nachmittags beschwerten rötlichen Straßenfarben starrte, fast überrascht, daß das New Star and Garter Hotel nicht nur in Griebens Reiseführer stand sondern auch am Richmond Hill (acht Schilling. Zwanzig Prozent Arbeitslose in England). Als der Chauffeur über das Trinkgeld verärgert abfuhr, wäre sie ihm am liebsten nachgelaufen. Sie wollte hier nicht mit Fehlern beginnen.
Es war schon dunkel, dicke aschige Nacht, als sie auf dem Hof vor Cresspahls Werkstatt stand. Sie ließ sich Zeit, ihm bei der Arbeit zuzusehen, einem derben Kerl in einem Hemd ohne Kragen, der seit Tagen nicht gegen seine gelben Bartstacheln angegangen ist und leise fluchend mit schweren Zwingen hantiert. Manchmal zwinkerte er in Gedanken, so allein glaubte er sich. Als er endlich mit einer Pfeife vor die Tür trat, konnte er ihr Gesicht nicht erkennen, und erkannte sie.
Sie waren sehr gerührt. Alle Worte, die er ihr über das Haus und über Salomon und über Richmond angeboten hatte, nahmen unverzüglich für sie die Gestalt seiner Treppe, seiner Küche, seines Zimmers und der Gaswerkschornsteine vor dem Fenster an. Sein Besuch in Jerichow nahm unaufhörlich an Wirklichkeit zu. Schon ängstigte sie sich davor, ihn zu verlieren; sie wünschte sich, vor ihm zu sterben.
Cresspahl war erschrocken. (Es war ihm nicht um das Geld, das sie auf diese Reise geworfen hatte; ihm war unbehaglich, da sie sich geeinigt hatten auf sparsames Wirtschaften.) Er war erschrocken über die Einfälle, die er nach diesem von ihr gewärtigen mußte. Ihm war unheimlich, wie blind sie sich in einem Schritt, in einer Zeit mit ihm glaubte; wo ihn noch Fremde und Entfernung scheuerten, bemerkte sie keinen Abstand mehr. Sie kam ihm vor wie das Kind, das beim Eierlaufen vor Überschwang vergißt, das auch die Spielgefährten die zerbrechliche Last ganz, zur Not mit feindseligen Tricks, ins Ziel bringen wollen; er fühlte sich verpflichtet, auch noch dafür zu sorgen, daß sie heil ankam. Jetzt war er ihr nicht nur durch sein Alter überlegen. Sie machte sich abhängig. Das hatte er nicht gewünscht. [...] (20.9.1967)
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