[...] Gesines zehn Tage am Atlantik sind jetzt zugedeckt von drei Wochen in der Stadt, und die Verhaltensweisen der Angestellten sitzen ihr wiederum dicht auf der Haut. Wiederum rückt sie die Zeit ihrer Uhren um fünf Minuten vor, um einer Verspätung im Büro vorzubeugen. Diese fünf Minuten verschweigt sie sich beim Einschlafen wie beim Aufstehen, erst bei Verspätungen der Ubahn vertraut sie wissentlich auf die Reserve. Aus den einzelnen Betriebsstörungen der Bahn macht sie eine negative Regel, um den Weg zur Arbeit von Grund auf zu schützen gegen Einbußen an Zeit, und im Gedächtnis spart sie weiterhin solche Minuten unter fünf, die bei einem vorzeitigen Ende des Frühstücks abfallen, oder sie zweifelt am Gang der Uhr. Sie überwacht die deponierte Zeit nach den Ansagen der Rundfunksender, verheimlicht sie sich gleichzeitig in einem Mißtrauen gegen die Lässigkeit der Sprecher:
Leute, wenn ihr um halb aus dem Haus sein wolltet, seid ihr jetzt erst sieben Minuten verspätet!
Außer dem versucht sie, ihren Erfahrungswert von fünfunddreißig Minuten zwischen Wohnung und Schreibmaschine durch eiliges Umsteigen und durch waghalsige Ausdeutung der Ampelzeichen zu vermindern, ohne allerdings den Gewinn zu ihren eigenen Gunsten auf dem Zifferblatt anzulegen. Die angesammelte Rücklage schickt sie gelegentlich schon um zehn nach acht weg von der Oberen Westseite, bringt sie oft um halb neun vorbei unter der ungefügen Uhr im Bahnhof Grand Central
Dies ist die Uhr, die Amerika aufweckt!
und nicht selten war sie um dreiviertel neun an der elektrischen Normaluhr im Büro, deren spinnenbeiniger Sekundenzeiger am Spielraum hobelt. In der gewonnenen Viertelstunde könnte sie die Zeitung auffalten, aber es käme ihr kleinlich vor, pünktlich um neun Uhr null Sekunden anzufangen, und sie greift doch in den Eingangskasten. Auf das Tempo der Arbeit wirkt die hamsterische Zeitmessung nicht, denn ihr werden Vorgänge nach Vorrat und Anfall zugeteilt; es gibt auch halbe Stunden, in denen die Angestellte Cresspahl Lexika liest, arbeitsam vorgebeugt, bei offener Tür [...]
Und vertrauliche Überstunden in den Waldorf Astoria Towers … dreißig Meter hoch über der abendlichen, verlassenen Lexington Avenue, dreißig Meter im Freien über den angetrunkenen Herren, verirrten Touristen, königlich patrouillierenden Taxis im stinkenden Kanal der Straße … in der stockigen Luft der Klimamaschinen, Luft aus Großmutterschubladen, Schubladen voll Kuriosa und Preziosen … Überstunden für den Vizepräsidenten de Rosny der in seine Suite geleitet wird als ein geliebter Fürst auf Durchreise, dem das Hotel eine Bar mit frischem Eis auffährt, einen zweiten Fernsehapparat, eine elektrische Schreibmaschine in einer Art fahrbaren Wiege … Überstunden für die Übersetzung eines Briefes aus Prag, in polnischem Französisch, über Nachtlokale, Schmalfilm, ein Mädchen namens Maria-Sofia, über Staatskredite auf Dollarbasis … Überstunden mit Cocktails … Überstunden mit Heimreise in einer schwarzen Kutsche, durch das rötliche Gegenlicht der westlichen vierziger Straßen, unter den Bogengüssen offener Hydranten, über die Schnellstraße der Westseite, hoch neben dem grauen dampfenden Hudson, dem in Dunst gewickelten Gegenufer, voran am gefegten geharkten Riverside Park, über der Erde … Stunden über die Arbeitszeit, über den Bedingungen gewöhnlicher Arbeit …?
Es war ein Ausflug. Es war lustig. Es war sonderbar. Es waren Überstunden, ohne Bezahlung.
(13.9.1967)
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