06 September 2017

Wieland: Ehe für alle (in: Der goldene Spiegel)

"Übrigens läßt sich aus einer Stelle dieses Kapitels schließen, daß Tifan auch in den Ehegesetzen der Scheschianer beträchtliche Änderungen vorgenommen habe. Allein da sie ein besonderes Hauptstück des zweiten Teils seines Gesetzbuchs ausmachen: so läßt sich, bis man eine vollständige Abschrift desselben gefunden haben wird, weiter nichts davon sagen, als daß der ehelose Stand durch Tifans Gesetze niemanden verstattet wurde, der nicht eine angeborne oder zufällige körperliche Untüchtigkeit von der unverbesserlichen Art gerichtlich erweisen konnte.«"
(Wieland: Der goldene Spiegel 2. Teil Kapitel 11)

Tifan war nach Darstellung Danischmends, der über ihn berichtet, geradezu der ideale Herrscher.
Und doch sah Danischmend erst in dem Fall, dass eine Überbevölkerung eintreten werde, eine Rechtfertigung, von dieser Zwangsgesetzgebung abzuweichen.
Allerdings wollte er der möglichen Überbevölkerung nicht nur durch Erhöhung der Produktivität, vermehrten Export und auch durch Auswanderung und Gründung von Kolonien entgegenwirken.

"»Aber, Herr Danischmend«, sagte der Sultan, »ich möchte wohl wissen, wie du mir den Zweifel auflösen wolltest, der mir in diesem Augenblicke gegen Tifans Grundsätze über die Bevölkerung einfällt. Ich setze voraus (was doch in der Tat kaum zu glauben ist), daß er wirklich alle physischen, politischen und sittlichen Hindernisse, welche der Vermehrung eines Volkes nachteilig sind, glücklich aus dem Wege geräumt habe; was wird die Folge davon sein? Seine Scheschianer werden sich vermehren wie die Kaninchen; in kurzem werden sie nicht mehr Raum genug haben neben einander zu wohnen; und der bloße Mangel an Unterhaltwird endlich eine ärgere Verwüstung unter ihnen anrichten, als Despotismus, Schwelgerei, Bonzen, Tänzerinnen, Ärzte und Apotheker zusammen genommen nicht anzurichten vermocht hätten. – Wie oft, sagt man, muß sich ein Volk ordentlicher Weise verdoppeln, Danischmend?« [...] 

»Gleichwohl ist diese Bevölkerungssache so schlimm nicht als sie beim ersten Anblicke scheint. Je mehr sich die Bewohner von Scheschian vervielfältigen, je mehr Hände haben wir die Natur zu bearbeiten; eine Quelle, welche desto ergiebiger ist, je größer die Zahl derer ist die aus ihr schöpfen. Und wer kann das Maß und die Grenzen ihrer Fruchtbarkeit bestimmen? Überdies nimmt auf der[261] einen Seite mit der Zahl der Menschen auch die Summe ihrer Bedürfnisse, und folglich auch der Hände zu, die ihrentwegen in Arbeit gesetzt werden müssen und von dieser Arbeit leben; so wie auf der andern Seite Fleiß und Erfindsamkeit durch die immer nahe Gefahr des Mangels angespornt werden, die Künste zu einer Vollkommenheit zu bringen, wodurch ihnen vermittelst des auswärtigen Handels eine Menge andrer Völker zinsbar wird. Reicht endlich alles dies nicht zu; nun so werden wir uns freilich entschließen müssen, die Bienen zum Muster zu nehmen, und von Zeit zu Zeit die jungen Schwärme zu nötigen, sich andre Wohnsitze auszusuchen: es sei nun, indem ein großer Teil der Scheschianer sich einzeln in fremde Länder zerstreut, wo fleißige und geschickte Ankömmlinge allezeit willkommen sein werden; oder indem der Staat selbst Kolonien aussendet, welche sich auf entlegnen Küsten niederlassen, Künste und Sitten zu barbarischen Völkern tragen, und durch das nämliche Mittel, wodurch sie ihren eigenen Zustand verbessern, zugleich Wohltäter des menschlichen Geschlechts werden. Wie viele und große Inseln, wie viele bewohnbare Gegenden des festen Landes liegen entweder noch ganz öde, oder sind doch lange nicht so bewohnt und angebaut, daß sie nicht noch Raums genug für viele Millionen neuer Ankömmlinge haben sollten, welche, anstatt ihren Unterhalt durch die Jagd in unermeßlichen Wildnissen zu suchen, die Werkzeuge des Ackerbaues und der Künste mit sich bringen, wodurch der zehnte Teil des Bezirks worin hundert Wilde kümmerlich ihrem Hunger wehren, zu einer reichen Vorratskammer für hundertmal so viel gesittete Familien gemacht wird!« [...]

Außerdem sah der vorbildliche Herrscher Tifan freilich auch staatliche Einrichtungen im Sinne der Halleschen Anstalten vor, in denen die Kinder von Tagelöhnern, deren Verdienst nicht ausreichte, all ihre Kinder zu ernähren, untergebracht werden sollten. - Bei allem Bestreben, eine ungleiche Verteilung von Reichtum zu vermeiden, rechnete Wieland also damit, dass eine solche Einrichtung nötig wäre.


"In den meisten andern Staaten würden solche Anstalten, aus Mangel kluger Einrichtung und guter Aufsicht, in kurzem ausarten, und den gemeinnützigen Zweck nur auf eine sehr unvollkommene Weise befördern. Aber hier hatte Tifan für alles gesorgt. Alle in dergleichen öffentlichen Erziehungshäusern sonst gewöhnliche Mißbräuche waren unmöglich gemacht. Diese Kinder genossen unter dem Namen der Pflegekinder des Königs den unmittelbaren königlichen Schutz. Die Könige selbst, welche das Gesetz nach dem Beispiele Tifans zu beständigen Reisen durch die verschiedenen Provinzen des Reichs verpflichtete, kamen von Zeit zu Zeit, den Zustand ihrer Pflegekinder zu untersuchen, und die geringste Untreue oder Saumseligkeit auf Seiten der Personen, welche als Bediente oder als Lehrmeister und Aufseher bei diesen Häusern angestellt waren, wurde so scharf bestraft, ein pflichtmäßiges Betragen hingegen, nach Verfluß einer gewissen Zeit, so wohl belohnt, daß Fremde, welche diese sonderbaren Stiftungen sahen, sich nicht genug darüber wundern konnten – daß es so leicht sei, gute Anstalten in der besten Ordnung zu erhalten.«
»In der Tat, ich lasse mir diese Einrichtung gefallen«, sagte Schach-Gebal. »Aber was machte Tifan mit so vielen Pflegekindern?«

»Es scheint nicht, daß er jemals über ihre Menge verlegen gewesen sei«, antwortete Danischmend. »Die stärksten aus ihnen wurden zum Soldatenstand, oder zu andern Verrichtungen, welche vorzügliche Leibeskräfte erfordern, erzogen; und die unfähigsten waren doch immer zu irgend einer mechanischen Arbeit gut genug. Ein großer Teil ging als Dienstboten in die Häuser der Edeln und Begüterten über; mit einem andern Teile wurden die Fabriken besetzt, welche Tifan in großer Anzahl angelegt hatte; und diejenigen, bei denen man eine Anlage zu höhern Talenten, oder den Genie irgend einer schönen Kunst entdeckte, wurden in dem gehörigen Alter ausgeschossen, und in andern ihrer Fähigkeit angemessenen Anstalten zu ihrer Bestimmung zubereitet.«"  
(Wieland: Der goldene Spiegel 2. Teil Kapitel 11)

Die Möglichkeit sexuellen Missbrauchs von Kindern hatte Wieland offenbar noch nicht im Blick.

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