24 September 2017

Johnson: Jahrestage 19. September - Was Gesinde für Marie tut oder: Klassenschranken

19. September, 1967    Dienstag
Für dein Kind, Gesine Cresspahl, mußte es gleich ein privater Kindergarten sein, und es machte dir nichts aus, daß er veranstaltet wurde in einer Kirche, die Gott von einem Rockefeller zum Andenken an seine Mutter gestiftet war, in geräumigen, sauberen Klassenzimmern hoch über dem Riverside Park und dem Hudson, mit Erzieherinnen, denen es nicht an Lohn fehlte zur Geduld mit den Kindern des Mittelstands, Mrs. Jeuken, Mrs. Davidoff, die Marie glauben machten an eine Welt, in der Freundlichkeit und Mangel an Neid und Gehorsam sich auszahlen, dafür legtest du dich krumm mit anderthalb Monatsgehältern, und deine Entschuldigung war »sie soll es bequem haben beim Lernen der fremden Sprache«. Sollte dein Kind nicht Ansprüche lernen?

Die Briten haben den Sowjets ihren entlaufenen Physiker zurückgegeben. Jetzt sind beide Seiten noch darin einig, daß er ein kranker Mensch ist, und beide Mächte halten einander Mangel an Benehmen vor.

Dein Kind, Gesine Cresspahl, kam aber mit sechs Jahren immer noch nicht in eine städtische Schule, in einen der schäbigen Ziegelkästen, die stinken nach fiskalischem Geiz, in überfüllte Klassen, in denen die Kinder der Armen die Streite ihrer Eltern ausschlafen, in denen unterbezahlte Lehrer mehr auf die eigene Verteidigung bedacht sein müssen als auf den Unterricht, in eine Welt, in der Hieb gilt und Stich und Schlag. Gefielen dir nicht die zerbrochenen Bänke, die stinkenden Toiletten, die öden Zementhöfe hinter deftigem Maschendraht? Oder sollte das Kind nicht Lernen entbehren vor Streiks wie diesem seit sechs Tagen, der heute vier Fünftel der Lehrer von New York von den Schulen fernhält, in dem es nicht nur um ihre Gehälter geht sondern um neue Schulen, kleinere Klassen, disziplinarische Rechte gegen aufsässige Kinder? Sollte in einer Schule für Marie nicht die Polizei erscheinen und Abgesandte der farbigen Bevölkerung aus dem Gebäude prügeln? Gibt es für dich Kenntnisse, vor denen du dein Kind bewahren willst?

»Als Polizist Clarke mit verbundenem Kopf vom Flur heruntergeführt wurde, riefen einige der weiblichen Demonstranten: ›Hoffentlich wirst du sterben!‹«
[...]
Und dein Kind, Mrs. Cresspahl, geht zu den ärztlichen Untersuchungen nicht in eine städtische Klinik, muß nicht warten auf den verwanzten vergammelten Korridoren neben Blutenden, Bewußtlosen, Schwachsinnigen; dein Kind fährt zu einer Praxis an der Park Avenue, angemeldet wie eine Dame, begrüßt wie eine Freundin, ein Besuch fünfzehn Dollar, eine Blutzählung vierzig Dollar. Dein Kind kennt seinen Arzt bei Namen, schreibt ihm Briefe, wagt mit ihm zu telefonieren. Der Arzt deines Kindes hat seine extravaganten Zensuren nicht erworben an einer staatlichen Universität sondern an der von Harvard, und zu deinem Kind kommt der Arzt ins Haus. Wo gibt es das, ein Arzt in New York, jährlicher Umsatz über hunderttausend, kommt bei ein wenig Fieber ins Haus und beschließt die Behandlung mit einem uneiligen Gespräch, locker und müßig auf seinem Stuhl, nicht der freiberufliche Unternehmer, fast ein Freund bei privater Visite? Für dein Kind ist dir das Beste eben genug, Mrs. Cresspahl? Warum für dein Kind? Du hast auch Post, Gesine.

Liebe(r/s) Herr / Frau / Frl. Cresspahl
Ich bin plötzlich und kurzfristig zum aktiven Militärdienst einberufen worden. Bitte regeln Sie offenstehende Rechnungen mit meinem Rechtsvertreter. Seien Sie versichert, daß ich Sie benachrichtige, wenn ich zurückkomme …

Washington, 18. Sept. (AP)
Nach einer heutigen Mitteilung des Verteidigungsministeriums sind die folgenden Männer im Kampf in Viet Nam getötet worden: Leutnant William D. Huyler der Jüngere aus Short Hills, New Jersey; Fachsoldat 4. Grades Harald J. Canan aus Oceanside, Long Island; Gemeiner Laifeit Grier aus Brooklyn: von der Armee; Gefreiter James P. Braswell aus der Bronx und Gemeiner Robert C. Wallace aus Plattsburgh, New York: vom Marineinfanteriekorps. (19.9.1967)

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