D. E. schickt Blumen, Telegramme, Theaterkarten, Bücher. Er führt Marie zum Essen aus, er hat sich mit Esther angefreundet, er hört Mr. Robinsons Erzählung von seiner Militärdienstzeit in Westdeutschland zu. D. E. wohnt in New Jersey, aber er verbringt viele Zeit in den Bars um die 96. Straße am Broadway, zwei Blocks vom Riverside Drive. [...] D. E. arbeitet in der Rüstung.
D. E. sagt: Ich arbeite für die Verteidigung.
Gesine hat D. E.s Namen zum ersten Mal in Wendisch Burg gehört, 1953. Er hatte die selbe Schule besucht, von der Klaus Niebuhr und die Babendererde in jenem Frühjahr vorzeitig abgingen, und er sollte von seinem Physikstudium in Ostberlin ausgeschlossen werden, nachdem er in einer Fakultätsversammlung den Fall Babendererde als ein Beispiel für Verfassungsbruch in der Deutschen Demokratischen Republik (durch die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik) dargestellt hatte. Da noch nicht, aber nach dem Juniaufstand verließ er das Land. Er wird sich entschieden haben mit einer solchen Liste von positiven und negativen Faktoren, wie er sie heute anlegt, wenn er sich zwischen Autos oder Häusern oder politischen Meinungen nicht entscheiden kann. Damals hatte auf der einen Seite Wendisch Burg gestanden, der Sozialismus in der ostdeutschen Manier und eine verschleppte Liebschaft mit Eva Mau; auf der anderen Seite seiner Rechnung war herausgekommen: Die Aussichten für meine Ausbildung sind hier nicht günstig. So hatte er sich nicht selbst entschließen müssen.
Gesine hatte ihn im Flüchtlingslager Marienfelde in Westberlin zum ersten Mal gesehen, einen hageren, steilköpfigen Jungen mit damals blondem Haar, der sich in einer zerstreuten Art um sie bemühte, indem er sie nach Jerichow ausfragte und ihr politische Theorie mit viel physikalischem Vokabular vortrug. Mühelos wußten sie sich nur über den Fall Babendererde zu unterhalten. Er machte sich nicht die Mühe, sich in die selbe Stadt wie sie weisen zu lassen. Sie traf ihn nur zwei Tage, bevor er nach Westdeutschland ausgeflogen wurde. Vor der Aufnahmekommission sollte er gesagt haben: Ich habe mich für das kleinere Übel entschieden. Sie ließen ihn dafür nach Stuttgart, er schrieb seine Doktorarbeit in Hannover, von Westdeutschland ging er nach England, in die U. S. A. gekauft wurde er 1960. Er schickte zwar Ansichtspostkarten, manchmal Briefe, in denen vornehmlich von den Taten und Erlebnissen Eva Maus die Rede war, und aus Stuttgart schrieb die junge Frau Niebuhr Berichte über D. E.s rasche Liebschaften in einem bewundernden, fast ergebenen Ton. Die Babendererde spricht von D. E. noch heute wie von einem älteren Verwandten, als hätte sie ihm etwas zu verdanken. Gesine war elf Monate in New York, ehe er sie fand, beim Blättern im Telefonbuch, und sie zum ersten Abendessen einlud, ein massiger, maulfauler, fast feierlicher Patron, und ihr die Ehe antrug, nachdem er Marie kennengelernt hatte.
D. E. arbeitet für eine Firma in einem Industrial Park, New Jersey, die an der DEW LINE beteiligt ist. D E W sind die Anfangsbuchstaben von Distant Early Warning, einer Linie aus Radarstationen rund um die Territorien des nordatlantischen Vertrages, die sowjetische Raketen so rechtzeitig anzeigen sollen, daß noch Zeit ist für einen amerikanischen Gegenschlag. [...]" (1.9.1967)
"Mrs. Ferwalter ist eine kleine, zu beleibte Frau, die Mutter von Rebecca, eine stämmige Person, die gern Hängekleider in roten Farben trägt. Ihre Backenknochen stehen breit, die Stirn ist schmal über fast schwarzen Augen und Brauen, und der Schwung, in dem ihr Kopf zu einem engen Untergesicht verjüngt ist, erinnert an ihr Mädchengesicht. Jetzt ist es zugepackt mit Alter, festgehalten in einem starren Ausdruck von Abscheu, den sie nicht ahnt. Sie ist vom Jahrgang 1922, sie sieht aus wie eine Sechzigjährige. Vor sechs Jahren auf diesem Spielplatz hörte Mrs. Ferwalter Gesine deutsch sprechen mit ihrem Kind, und stand auf von der benachbarten Bank, kam heran auf ihren dicklichen Beinen, schwer auftretend, und setzte sich neben Gesine. – Mag sein mein Kind kann spielen mit yours: sagte sie gutmütig, in einem Akzent, der fast russisch klang. Sie sah aus wie nach einer gefährlichen Krankheit. Ihr starkes braunes Haar war uneben kurz geschnitten, wie nach einer Schädeloperation. Sie trug ein Kleid ohne Ärmel, und als sie sich beim Hinsetzen aufstützte, sah Gesine die Nummer, die innen in ihren linken Unterarm tätowiert war. Sie wandte den Blick ab auf die umfänglichen Beine der Frau, in denen aber Krampfadern hervortraten. [...]
Mrs. Ferwalter ist aus einem ruthenischen Dorf, dem Osten der Slowakei, »wo die Juden saßen wie in einem Nest«. Sie betont, daß es ein »gutes« Dorf war. Die Christen duldeten die Andersgläubigen, und das fünfzehnjährige Mädchen wurde im christlichen Ende nicht einmal abends von den halbwüchsigen Jungen belästigt. Nach ihren Eltern können wir sie nicht fragen. »Ich war nicht hübsch. Man nannte mich apart.« »Das Haar ging mir bis ans Kreuz.« 1944 wurde sie, wahrscheinlich von den Ungarn (danach können wir sie nicht fragen), ausgeliefert an die Deutschen. Die Deutschen brachten sie in das Konzentrationslager Mauthausen. »Eine von den Aufseherinnen, die war so gut, sie hatte fünf Kinder und mußte das alles ja.« Sie meint eine S. S.-Wächterin. [...]
Mrs. Ferwalter war die erste von den europäischen Emigrantinnen am Riverside Drive, die Gesine in der Nachbarschaft beriet, ihr einen Kindergarten für Marie vorschlug, ihr Geschäfte mit importierten Lebensmitteln zeigte, sie vor Läden von »schlechten Juden« warnte und immer von neuem auf alles »Europäische« auf der Oberen Westseite von Manhattan hinwies. Sie hat Heimweh nach dem Geschmack des Brotes in Budweis, und vielleicht hat sie in diesen sechs Jahren an Gesine festgehalten mit Telefonanrufen und Spaziergängen und Gesprächen im Riverside Park, weil diese Deutsche den Geschmack des Brotes kennt, den sie entbehrt. [...]
Sie läßt sich von Gesine aus der Zeitung vorlesen, sie würde für eine Zeitung kein Geld ausgeben." (2.9.1967)
3. September, 1967 Sonntag
An einem Tag wie diesem, vor 36 Jahren. An einem weißen Tag wie diesem, kühl unter hartem Blau, in sauberer, laufender Luft. Auf dem Strandweg in Rande, neben der grau und grünen See, gegenüber dem scharfen und finsteren Umriß der holsteinischen Küste. Unter flackrigem Laub sich auf der Sonnenseite halten. Cresspahls Stimme muß damals ein schwerer Baß gewesen sein, mit heiseren Vokalansätzen, im malchower Platt; die meiner Mutter klein, biegsam, ein hoher Alt. Manchmal unterläuft ihr eine hochdeutsche Redewendung, »wenn Gott will«, oder »meiner Mutter wegen«. Sie ist hinter ihren Eltern zurückgeblieben, und Louise Papenbrock dreht wieder und wieder den Kopf über die Schulter nach dem Fremden, der ihre Tochter womöglich nach der Uhrzeit fragt.Was soll aber daraus werden?
Wollen wir das nicht abwarten?
Sie haben sich aber etwas vorgenommen.
Darauf muß ich warten.
[...]
Wünschst du dir Kinder, Heinrich Cresspahl? (3.9.1967)
"[...] Es ist das erste Wochenende in diesem Sommer, an dem es nicht geregnet hat. Vom Riverside Drive aus, über die ganze Breite des Hudson, sind auf dem Ufer New Jerseys scharf und unleugbar die bräunlichen Kästen und Zylinder zu sehen, moderne Baukunst, die zerstörte Aussicht, die in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts beschlagnahmt werden sollte für den Riverside Drive.
Die Häuser an dieser Straße, kaum eines unter zehn Stockwerken, wurden gebaut für die neue Aristokratie des neunzehnten Jahrhunderts, für das junge Geld, Eisenbahngeld, Minengeld, Erdgasgeld, Ölgeld, Spekulationsgeld, das Geld der industriellen Explosion. Riverside Drive, die Straße am Flus, sollte die Fifth Avenue als Wohngegend übertreffen, mit seinen herrschaftlichen Eingängen, feierlichen Foyers, den Achtzimmerfluchten, den Dienstbotenkammern, versteckten Lieferantenfluren, den Angestellten in der Uniform, mit der reservierten Aussicht auf den Fluß, die wüsten Wolken Wald auf dem jenseitigen Steilufer, auf Natur. Am ganzen Riverside Drive gibt es nicht ein Geschäft, keinen Laden, nur zwei, drei Hotels, allerdings Residenzen für Dauergäste. Wo der Kommerz wohnte, wollte er von Adel sein. [...]
Die Belgier haben mich Madame genannt, und die Amerikaner sagen mir Liebling. In Europa verbeugen sich die Kinder beim Gruß vor den Erwachsenen. Meine Familie war seit fünf Jahrhunderten in Deutschland. Mit dem langen französischen Brot unterm Arm kam mein Vater nach Hause. Mein Vater ist –.
Ihr Vater ist von den Deutschen umgebracht worden, Mrs. Blumenroth.
Mein Vater ist früh gestorben, Mrs. Cresspahl. [...]" (4.9.1967)
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