07 März 2021

Bossong: Schutzzone: Versöhnung - Übergang

Zum ersten der vier Artikel zu diesem Buch.

Versöhnung

 Glion. Juli 2017, S.245

Bei gutem Wetter, heißt es, sei die Spitze des Mont Blanc vom Palais des Nations aus zu sehen. Die Wahrheit aber ist, das ist dieses Gott gute Wetter nie gab. Es gab Tage, an denen die Sicht fast klar genug war, fast, nie war sie es ganz, und vielleicht fuhren wir deshalb so gern nach Glion, für eine Konferenz zu Menschenrechten oder einem Gespräch abseits des Protokolls, von hier aus sah man den Berg bei jedem Wetter, majestätisch und ruhig vor dem Fenster.
Das Frühstück im Hotel Victoria wurde von 7-10 serviert, sonst hätte die Zeit hier keine Wirkung. [...]
Weißt du, wo Kolja ist?, fragte er nur.
Bitte, Milan, woher soll ich das wissen? [...]

Was wirfst du mir vor, sagte ich nun laut, und es mag sein, dass ich nicht nur laut war, sondern schrie: ich habe nur einen Riss in euren verdammten feinen Stoff gebracht.

Dieser verdammte feine Stoff, Mira, war mein Leben. 

Tut mir leid wenn du sowas nicht hast.

Schwarzwald. Mai 1994, S.254
Es sei schon nach Mitternacht gewesen, als sie aus dem Krankenhaus angerufen habe, um Milan zu sagen, dass sie die Nacht über bei Darius bleibe, er auf mich aufpassen sollen, ob er das hinbekomme, natürlich, habe ihr geantwortet, es gäbe ja eine Flinte im Schuppen, und sie habe an diesem Abend zum zweiten Mal jemanden angeschrieben, er solle diese geschmacklosen Witze unterlassen, erzählte Milan, als wir zu zweit beim Frühstück auf der Terrasse saßen, ich so viel Kakao in meine Milch rührte, wie ich wollte, so viel, bis sie untrinkbar war, und das erste Mal habe sie geschrien, als sie Darius am Fuß des Hangs gesehen habe, neben dem zerbeulten Mercedes, [...] (S.257)


New York, Februar 2003, und Genf, April 2013
Es ist nicht das Bild eines Kindes in Pumphosen, das verschreckt oder traurig, nachdenklich oder melancholisch, vielleicht einfach skeptisch den Betrachter ansieht, es ist nicht dieses Bild, das Picasso weltberühmt machte. Das Bild, das die meisten mit seinem Namen verbinden, ist blasser. Grau- und Schwarztöne wechseln sich ab, reißen die Wesen aus dem Schatten, aber nur, um sie direkt vor unseren Augen zu versengen.
Die deutsche Legion Condor hatte er als Unterstützung General Francos während des spanischen Bürgerkriegs die Stadt Guernica zerstört [...] (S.261)

Natürlich habe ich auch schon am Schreibtisch in Davens Hotelzimmer gewusst, dass wir alle mehr Angst vor dem Unbequemen haben als vor der Katastrophe, weil das Unbequeme uns betrifft, während die Katastrophen am Himmel glühen, aus der Ferne reizvoll, aus der Nähe unerträglich, wir hängen ein paar Flaggen darüber oder verlieren uns in unseren kleinen Sorgen, in unseren Gedanken über Renommee und Wertanlagen, damit wir das dort drüben nicht zu deutlich sehen, hinter der Grenze, hinter der Grundstücksmauer, die Medikamente lagen noch im Kofferraum, wir hätten sie längst herausholen müssen, aber wir wollten jetzt nicht daran denken, dass es auch diese andere Welt gab, und je mehr wir erlebt haben oder erlebt zu haben meinen, desto eitler werden wir oder waren es schon vorher, war nur immer rücksichtsloser, danach zu handeln. (S. 268)

Glion. Juli 2017, S.270

[...] Verstehen Sie mich nicht falsch, sagte sie und rückte den Obstteller beiseite, aber Versöhnung ist etwas äußerst Schwieriges. Vor allem, wenn sich ein fremder Staat einmischt. [...] (S.272)
[...] Es war ein Putsch, sagte ich.
Bitte was?, fragte meine Gesprächspartnerin.
1974. Ein Putsch, unterstützt von der Militärdiktatur auf dem griechischen Festland. [...] Er hat sich damit gebrüstet, Frauen und Kinder getötet zu haben. Er hätte töten lassen, bis die Insel ethnisch rein gewesen wäre. Auch eine Lösung des Zypernproblems, falls die Ihnen besser gefällt. Sie können nicht nur die eine Seite erzählen. (S. 273/274)

Südkivu. Mai 2013, S.278
[...] Die Nächte im Lager begannen um 5:00 Uhr am Nachmittag, was weder am Breitengrad noch an der Witterung lag, sondern an der Vorsicht und Angst und den Menschen. Sogar das Krankenhaus lag still, sofern es keinen Notfall gab [...]

Übergang, S.291

Genf. August, S.291

Bad Godesberg. September 2017, S.313
[...] Wir sind weggeschickt worden. Weil wir machtlos waren, hat ein Kollege später zu mir gesagt. Aber das stimmt nicht. Ich war nicht machtlos, wir alle waren das nicht, einige wären es nur gerne gewesen. Es ist bequemer. Sie haben uns durch die Menge gelotst. Und wir wussten was mit denen passiert, die bleiben. Wir wussten es alle. [...] (S.320)

 An dem Abend erzählte ich ihm eine Geschichte. Eine Geschichte von einer Flinte, von einer Treppe neben einer Prozessionsfigur, von einem Käscher am Rand eines Swimmingpools, denn man glaubt eine Geschichte ja erst, wenn man sie jemandem erzählt, den man vertraut, und wem vertrauen wir schon, wem glauben wir, dass diese ganzen Mythen und Märchen wahr sind, und vielleicht handelte die Geschichte nur davon dass man sich die Erinnerung teilt, das ist alles, nicht viel es ist bloß mehr als alles andere. (S.321)

Genf. April 2018, S.322 
[...] aber ich weiß, dass ich mich noch einmal umdrehte, und obwohl wir gesehen werden konnten, hier im Park, auf einer Bank vor dem gewaltigen Fensterfront des Palais des Nations, obwohl es gegen die Abmachung verstieß, fuhr ich mit der Hand in dein Haar, küsste dich auf die Wange, nah an deinen Lippen, und dann bin ich eben gegangen, ohne mich an die Regeln zu halten, in diesem letzten Moment habe ich mich nicht daran gehalten, weil ohnehin nichts mehr zu retten war, die Welt vielleicht noch, aber was ist schon die Welt. (Seite 327)

Genug Stoff für 3, 4 gute Kurzgeschichten oder eine längere Erzählung. Nicht für einen Roman. Wahrscheinlich hätte ich die Kurzgeschichten nicht gelesen.  -  Ich habe aber auch keinen Roman gelesen. 

Vermutlich können andere Leser aus diesem Text einen Roman herauslesen. Mir ist das gegenwärtig nicht möglich. 

Wenn die UNO ein Imperium wäre, müsste man von Überdehnung sprechen. 
Sie ist völlig überfordert davon, in ihrem Einflussraum Frieden zu sichern. Das römische "pacare" (Befriedung durch Unterwerfung) gelingt ihr nicht.
Sie ist aber kein Imperium, sondern eine NGO (nongovermental organisation) eigener Art, die versucht, Macht zu entwickeln, um Menschheitsinteressen der verschiedensten Art zur Geltung zu bringen. 
Für diese Macht war man auf die Mächte des Sicherheitsrates angewiesen. 

Dazu ein Auszug eines Berichts, den der australische Außenminister Evatt über die Gründung der Vereinten Nationen auf der Konferenz von San Francisco (April bis Juni 1945 gab)

"Uns wurde wieder und wieder gesagt, daß die Erhaltung des Grundsatzes der Einmütigkeit zwischen den Großmächten lebenswichtig sei; wurden Abänderungen der Formel vorgeschlagen oder erörtert, so wurden wir bezichtigt "Vollkommenheitsfanatiker" zu sein oder "die Charta zerreißen" zu wollen. Schließlich sagte man uns auf den Kopf zu, daß keine Änderung des Textes angenommen werden würde und daß wir entweder die Charta mit diesem Text hinzunehmen hätten oder gar keine Weltorganisation bekämen ..." 

Sonja Hövelmann:

Das internationale humanitäre System. Eine Einführung

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