Katharina Pistor:
Der Code des Kapitals - Wie das Recht Reichtum und Ungleichheit schafft
"Katharina Pistor zeigt in ihrem Buch, wie Kapital hinter verschlossenen Türen in Anwaltskanzleien geschaffen wird und warum dies einer der wichtigsten Gründe für die wachsende Ungleichheit in unseren Gesellschaften ist. Das Recht "codiert" selektiv bestimmte Vermögenswerte und stattet sie mit der Fähigkeit aus, privaten Reichtum zu schützen und zu produzieren. Auf diese Weise kann jedes Objekt, jeder Anspruch oder jede Idee in Kapital umgewandelt werden - und Anwälte sind die Hüter dieses Codes. Sie wählen aus verschiedenen Rechtssystemen und Rechtsinstrumenten diejenigen aus, die den Bedürfnissen ihrer Mandanten am besten dienen. " (Klappentext)
Leseprobe (pdf)
Auszug aus der Leseprobe:
(Da die Leseprobe öffentlich zugänglich und kopierbar ist, glaube ich im Sinne der Autorin und des Verlags zu handeln, wenn ich eine noch weitere Verkürzung mit zusätzlichen Hervorhebungen (von mir) als allerersten Zugang zu ihren Gedanken gleich hier anbiete.)
Das Kapital ist, wie ich in diesem Buch behaupten werde, rechtlich codiert. Gewöhnliche Güter sind einfach genau das, was sie sind – ein Grundstück, ein Versprechen, in der Zukunft bezahlt zu werden, die gebündelten Ressourcen von Freunden und Familie für die Gründung eines neuen Unternehmens oder individuelle Fähigkeiten und Knowhow. Doch jedes dieser Güter kann in Kapital verwandelt werden, indem es in jene Rechtsmodule gekleidet wird, die auch zur Codierung von forderungsbesicherten Wertpapieren (Asset-Backed Securities)* und deren Derivaten verwendet wurden, die im Zentrum des Aufstiegs der Finanzbranche in den letzten Jahrzehnten standen. Diese rechtlichen Module, nämlich Vertrags-, Eigentums-,Kreditsicherungs-, Trust-, Gesellschafts- und Insolvenzrecht, können dazu verwendet werden, den Inhabern bestimmter Güter einen komparativen Vorteil gegenüber anderen zu verschaffen. Jahrhundertelang haben Rechtsanwälte an diesen rechtlichen Modulen gefeilt, sie an verschiedene Güter angepasst und damit den Wohlstand ihrer Mandanten gemehrt. Und die Staaten haben die Codierung des Kapitals dadurch unterstützt, dass sie ihre juristischen Zwangsmittel für die Durchsetzung der gesetzlichen Rechte, die dem Kapital eingeräumt wurden, zur Verfügung gestellt haben. Dieses Buch erzählt die Geschichte der rechtlichen Codierung des Kapitals aus der Perspektive des Guts [asset]: Grund und Boden, Unternehmen, private Schulden und Wissen, ja sogar der genetische Code der Natur. Ich zeichne hier nicht sämtliche Nebenpfade in der Entwicklungsgeschichte des Rechts nach, all jene Drehungen und Wendungen, die notwendig waren, um zu gewährleisten, dass die alten Codierungstechniken den neuen Gütern genügten. Für Juristen sind solche Einzelheiten überaus befriedigend, bringen für Außenstehende jedoch ein Maß an Detailliertheit und Komplexität mit ins Spiel, das für das Verständnis der Grundidee, wie das Recht gleichermaßen Vermögen wie Ungleichheit schafft, nicht nötig ist."
* Dabei handelt es sich, kurz gesagt, um in Gestalt von Wertpapieren gebündelte Forderungen, zum Beispiel aus Immobilienkrediten. Der Handel mit solchen Forderungen bzw. Wertpapieren war, als im Jahr 2007 viele Kreditnehmer in den USA ihren Verbindlichkeiten nicht mehr nachkommen konnten, eine maßgebliche Ursache für die Entstehung der US-Immobilienkrise und der anschließenden globalen Finanzkrise; [Anm. d. Übers.]
"Das Recht ist ein mächtiges Werkzeug für die Ordnung des Sozialen und hat, wenn es klug eingesetzt wird, das Potenzial, einem großen Spektrum gesellschaftlicher Ziele zu dienen; dennoch wurde es – aus Gründen und mit Folgen, die ich zu erklären versuchen werde – fest in den Dienst des Kapitals gestellt. [...]
Dreißig Jahre später feiern wir nicht den Wohlstand für alle, sondern diskutieren darüber, ob wir bereits ein Maß an Ungleichheit erreicht haben, das zuletzt vor der Französischen Revolution erreicht wurde, und zwar in Ländern, die sich Demokratien nennen, mit ihrem Bekenntnis zur Selbstregierung auf Basis einer Herrschaft der Mehrheit und nicht der Eliten. Es ist schwer, diese Ansprüche mit einem Grad der Ungleichheit in Einklang zu bringen, der an den des Ancien Régime erinnert. Natürlich herrschte kein Mangel an Erklärungen. Marxisten verweisen auf die Ausbeutung der Arbeit durch die Kapitalisten. Globalisierungsskeptiker behaupten, dass eine exzessive Globalisierung den Staaten die Macht genommen hat, einen Teil der Profite, die die Kapitalisten einstreichen, durch Sozialprogramme oder progressive Besteuerung umzuverteilen. Und schließlich besagt eine neue Deutung, dass das Kapital in entwickelteren Volkswirtschaften schneller wächst als der Rest der Wirtschaft; wer immer also in der Vergangenheit Vermögen angehäuft hat, wird es im Vergleich zu anderen weiter vermehren.
Dies sind zwar zumindest teilweise plausible Erklärungen, die allerdings nicht auf die grundlegendere Frage nach der Genese des Kapitals eingehen: Wie wird Vermögen überhaupt erzeugt? Und, damit zusammenhängend, warum übersteht das Kapital häufig Konjunkturzyklen und Konjunkturschocks, die so viele andere in Panik versetzen und ihnen die Gewinne entreißen, die sie zuvor erzielt hatten? Die Antwort auf diese Fragen liegt, so werde ich behaupten, im Rechtscode des Kapitals begründet. Grundsätzlich besteht das Kapital aus zwei Komponenten: einem Gut und dem Rechtscode. Ich verwende den Ausdruck »Gut« hier in einem weiten Sinne für jedes Objekt, jede Forderung, Fähigkeit oder Idee, unabhängig von seiner oder ihrer Form. In ihrer reinen Gestalt sind diese einfachen Güter einfach genau das, was sie sind: ein Stück Boden, ein Gebäude, ein Versprechen darauf, eine Zahlung zu einem späteren Zeitpunkt zu erhalten, eine Idee für ein neues Medikament oder ein neuer Softwarecode. Mit der richtigen rechtlichen Codierung kann jedes dieser Güter in Kapital verwandelt und dadurch seine Tendenz, Vermögen für seine(n) Besitzer zu schaffen, verstärkt werden. Die Liste der im Recht codierten Güter hat sich im Laufe der Zeit verändert und wird dies wahrscheinlich auch weiterhin tun. In der Vergangenheit wurden Grund und Boden, Unternehmen, Schulden und Fachkenntnisse alle als Kapital codiert, und wie diese Auflistung zeigt, haben sich diese Güter mit der Zeit gewandelt.
Grund und Boden produzieren Lebensmittel und Unterkunft auch dann, wenn es keine rechtliche Codierung gibt, aber Finanzinstrumente und geistige Eigentumsrechte gibt es nur im Recht und digitale Güter im Binärcode, für die der Code selbst das Kapital ist. Und doch sind die rechtlichen Mittel, die für die Codierung jedes einzelnen dieser Güter angewendet wurden, im Laufe der Zeit bemerkenswert konstant geblieben. Die wichtigsten sind das Vertragsrecht, die Eigentumsrechte sowie das Kreditsicherungs-, Trust-, Gesellschafts- und Insolvenzrecht. Dies sind die Module, aus denen das Kapital codiert wird."
"Sobald ein Gut rechtlich codiert ist, ist es dazu geeignet, Vermögen für seine Besitzer zu erzeugen. Die rechtliche Codierung des Kapitals ist ein raffinierter Prozess, ohne den die Welt niemals das Vermögensniveau erreicht hätte, das heute herrscht; der Vorgang dieser Kapitalerzeugung selbst fand jedoch weitgehend im Verborgenen statt. Ich hoffe, im Laufe dieses Buches verdeutlichen zu können, wie das Recht dazu beiträgt, sowohl Reichtum als auch Ungleichheit zu schaffen. Die ersten Ursachen der Ungleichheit aufzudecken ist nicht nur deshalb von entscheidender Bedeutung, weil ihr Anstieg das soziale Gefüge unserer demokratischen Systeme bedroht, sondern auch, weil herkömmliche Formen der Umverteilung durch Steuern ihren Biss weitgehend verloren haben. Tatsächlich ist die Abschirmung von Gütern und Vermögenswerten vor der Steuer eine der unter ihren Besitzern gefragtesten Codierungsstrategien. Und Rechtsanwälten, den Herren des Codes, werden außergewöhnlich hohe Honorare dafür gezahlt, dass sie solche Werte mithilfe der Gesetze derselben Staaten aus dem Zugriffsbereich der Gläubiger herausschaffen, einschließlich der Steuerbehörden."
"Die Wohlhabenden führen oft besondere Fähigkeiten, die harte Arbeit und die persönlichen Opfer, die sie selbst oder ihre Eltern oder Vorfahren erbracht haben, als Rechtfertigung für das Vermögen an, das sie heute besitzen. Gewiss mögen diese Faktoren zur Entstehung ihrer Reichtümer beigetragen haben. Doch ohne rechtliche Codierung hätten die meisten davon nur kurze Zeit überdauert. Über lange Zeiträume hinweg Reichtum anzuhäufen erfordert eine zusätzliche Absicherung, die nur ein von den Zwangsbefugnissen des Staates gestützter Code bieten kann. Es wird oft als Zufall betrachtet, dass der ökonomische Erfolg, der die modernen Volkswirtschaften von früheren Zeiten mit viel geringeren Wachstumsraten und einer viel höheren Volatilität des Reichtums trennt, eng mit dem Aufstieg der Nationalstaaten verknüpft ist, die sich auf das Recht als das primäre Mittel zur Herstellung sozialer Ordnung stützen. Viele Kommentatoren führen das Aufkommen privater Eigentumsrechte, verstanden als wesentliche Begrenzungen der Macht des Staates, als die entscheidende Erklärung für den Aufstieg des Westens an. Dennoch ist es möglicherweise zutreffender, diesen Aufstieg auf die Bereitschaft des Staates zurückzuführen, die private Codierung von Gütern im Recht zu unterstützen, und zwar nicht nur in Form von Eigentumsrechten im engeren Sinne, sondern auch von anderen rechtlichen Privilegien, die einem Gut Priorität, Beständigkeit, Konvertierbarkeit und Universalität verleihen. Tatsächlich wird die Tatsache, dass das Kapital mit der Macht des Staates verbunden und von ihr abhängig ist, in den Debatten über Marktwirtschaften häufig außer Acht gelassen. Verträge und Eigentumsrechte schützen zwar freie Märkte, doch der Kapitalismus braucht noch mehr – nämlich die rechtliche Privilegierung mancher Güter, die ihren Inhabern einen komparativen Vorteil gegenüber anderen bei der Anhäufung von Vermögen verschafft. Die Offenlegung der rechtlichen Struktur des Kapitals trägt zudem zur Lösung des Rätsels bei, das Thomas Piketty in seinem bahnbrechenden Buch Das Kapital im 20. Jahrhundert präsentiert hat. Wie er dort zeigt, liegt die durchschnittliche Kapitalrendite in den entwickelten Volkswirtschaften über der durchschnittlichen gesamtwirtschaftlichen Wachstumsrate (r >g). Piketty hat dieses Rätsel nicht aufgeklärt, sondern sich damit begnügt, sein bemerkenswert regelmäßiges empirisches Auftreten zu dokumentieren. Doch seine eigenen Daten liefern wichtige Hinweise für seine Lösung. In einem Kapitel namens »Die Metamorphosen des Kapitals« zeigt Piketty, dass ländlicher Grundbesitz bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein die wichtigste Quelle des Reichtums war. Inzwischen sind Aktien, Anleihen und andere finanzielle Vermögenswerte sowie städtischer Immobilienbesitz an seine Stelle getreten. Die in diesem Buch vorgelegte Analyse wird zeigen, dass die Metamorphose des Kapitals Hand in Hand damit geht, dass die Module des Rechtscodes immer neuen Gütern übergestülpt werden, dass einige Güter aber auch von Zeit zu Zeit von den entscheidenden rechtlichen Modulen entkleidet werden: Ländlicher Grundbesitz, jahrhundertelang die wichtigste Quelle für privates Vermögen, hat lange von der größeren Beständigkeit profitiert, die er im Vergleich zu anderen Gütern besaß, büßte diese herausragende Stellung in Großbritannien und anderswo aber im späten 19. Jahrhundert ein. Zu diesem Zeitpunkt waren Kapitalgesellschaften nicht nur für die Organisation der Industrie, sondern auch als Nährböden des Reichtums zu weithin gebräuchlichen rechtlichen Modulen geworden."
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