31 Juli 2018

Die Woche mit Frau Cresspahl: Tanzstunde, Tagebuch, Irrungen, Wirrungen

"Im Frühjahr 1947 schwebt das Damoklesschwert des Erwachsenwerdens in Form von Tanzstunden über Gesine Cresspahl, die sich „zweimal in der Woche in einem Gneezer Hotel unterweisen lassen muss in bürgerlichen Balzritualen. Denn als bürgerliches Kind hat Marie Abs sie eingestuft und in Abwesenheit des Vaters darf sie zwar die Konfirmation, nicht aber die Etikette verweigern. So lange Heinrich Cresspahl nicht zurück ist, wird Gesine zu vornehmer Erziehung in Auftrag genommen“ und angehalten. Mit Erfolg: Die feine Gneezer Gesellschaft betrachtet sie als eine der ihren, auch wegen des schwarzen Mantels, den Marie Abs ihr hat schneidern lassen. Nur aus „Gehorsam gegen Frau Abs“ nimmt Gesine Cresspahl überhaupt an den Tanzstunden teil [...]  
Vor allem, wenn man ganz andere Sorgen hat, wie einen Vater in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, dessen Rückkehr mit dem Tagebuch festgeschrieben werden soll. Dieses Tagebuch ist „nicht so recht“ eines, es ist eine Wortliste, zum Teil auf Russisch, verborgen vor Jakob und Marie Abs. Endlich erfahren wir, was es mit den Jahrestagen auf sich hat: „hier macht ein Schreiber in ihrem Auftrag für jeden Tag eine Eintragung an ihrer Statt, mit ihrer Erlaubnis, nicht jedoch für den täglichen Tag“. Eines der Worte ist Rips, das Material des Kleides aus Gesine Cresspahls New Yorker Gegenwart, an dem ihr Chef zu ihrer Pein meint den Welthandel erklären zu müssen. Im Wort-Tagebuch meint es aber ihre Lehrerin Bettina Riepschläger, die gleich nach Abitur und zweimonatigem Kurs auf Gesines Klasse losgelassen wurde. Da blond und hübsch, wird sie Jakob verschwiegen, genauso wie Rips nichts von ihm erfährt. Jetzt, da Anne-Dörte endlich zu den gräflichen Verwandten in den Westen gegangen ist, muss nicht gleich die nächste kommen, so denkt sie es sich wohl. 
(FAZ 7.7.18)
[...] Mitten im Schuljahr kommt es Anfang 1949 an der Fritz-Reuter-Oberschule zu einer kleinen Rebellion: Gesine Cresspahl und Pius Pagenkopf setzen sich gemeinsam an einen Tisch in der letzten Reihe! Sowohl der Zeitpunkt als auch die Geschlechterkombination sind aus Sicht der Mathematiklehrerin Habelschwerdt ein Unding – „allenfalls im vorderen Feld des Klassenraums können ein Mädchen, ein Junge nebeneinander geduldet werden“ – und so wird Direktor Kliefoth gerufen, um die Ordnung wiederherzustellen. Der aber lässt die beiden Unruhestifter Poe übersetzen, straft Lise für ihr hysterisches Kichern ab und gibt beiden die Note eins, was einer unausgesprochenen Zustimmung gleichkommt. Gesine und Pius sitzen weiter nebeneinander in der letzten Reihe und gelten „fortan als Liebespaar“, auch wenn sie es nicht sind. Die beiden haben einen stillschweigenden Pakt geschlossen, nicht von den eigentlichen Objekten der Begierde zu sprechen, beiden nützt der Status als Paar. [...]
Alles machen sie gemeinsam, aber sie werden nicht das Paar, für das die anderen sie halten, nicht, als Gesine bei Pius übernachtet, nicht in den gemeinsamen Ferien. Vielleicht ist der Grund, dass sie „einander nie die Hand geben“. Und Pius ergänzt im imaginären Gespräch„Aus Spaß Gesine, das war mir zu wenig.“"
(FAZ 21.7.18)

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