02 Juli 2018

Moltke: Unter dem Halbmond - Bei der Taurus-Armee

57. Aufbruch der Taurus-Armee 
Lager zu Karakalk am Murad, 5 Stunden unterhalb Samsat, den 29. April 1839 
Im Frieden und von keinem Feind belästigt, mit Benutzung aller Hilfsquellen des eigenen Landes haben wir soeben den Taurus auf den gangbarsten Straßen überschritten. Kommandos von 2000 Mann waren vierzehn Tage vorher mit Schneeschippen, Steinsprengen, Ebnen und Brückenbauen beschäftigt. Am Mittag des 14. April brachen die Korps von allen Seiten auf. Wahr ist es, dass wir das unglücklichste Wetter von der Welt haben, seit wir Malatia verlassen haben, regnet es in Strömen.
[...]

58. Versammlung des Korps zu Biradschik
Beledjik, den 7. Mai 1839 
Der Pascha hatte mich nach Karakalk vorausgeschickt, wo ich einen guten Lagerplatz für das gesamte Korps fand; mittlerweile war er selbst nach Biradschik gegangen, hatte sich in die Stellung verliebt und befahl ohne weiteres, dass alles direkt dahin abrücken sollte. Unsere Stellung hier vor Biradschik ist ohne Rückzug und die schulgerechte Kritik wird sie also tadeln; ich rechne ihr das als einen Vorzug mehr an. Eine Brücke würde unmittelbar hinter dem Schlachtfeld nur den Ausreißern nützlich werden, jetzt weiß jedermann, dass er stehen oder verderben muss. Unsere Stellung hat eine Verteidigungsfront von 3500 Schritt, auf welcher vier Schanzen ihrer Vollendung nahen, beide Flügel lehnen an den Murad, vor der Front ein Glacis von 600 Schritt, dann ein kleines, vollkommen eingesehenes Tal und jenseits sanft ansteigende Höhen; rückwärts fällt der Höhenzug stark, das zweite Treffen ist schon vom Feind nirgends mehr einzusehen und die Reserven sind ganz gedeckt. Der Anblick der 4000 Zelte von der Schanze herab gesehen, der Euphrat und das alte Schloss von Biradschik bilden, beiläufig gesagt, einen sehr malerischen Anblick. Die Stimmung unter den Truppen ist gut; sie glauben 80 000 Mann stark zu sein und begreifen nicht, warum wir hier so lange stehen bleiben. Wir lassen ihnen gern diese Meinung. [...]
Ich brauche dir nicht zu sagen, dass wir wieder sehr viele Menschen, namentlich durch Desertion, verloren haben; ich schätze die wirkliche Stärke auf 25 000 bis 28 000 Mann Infanterie mit 5000 Pferden und 100 Geschützen. Wenn wir 30 000 Mann ins Gefecht bringen, will ich zufrieden sein, das ist aber auch höchst wahrscheinlich mehr als alles, was Ibrahim an regulären Truppen gegen uns verwenden kann, da er doch den Kuleck-Boghas nicht wird entblößen dürfen, ohne dass Hadschi-Aly nachfährt. [...]

59. Das Lager 
Lager von Biradschik am Euphrat, den 10. Juni 1839 
Es ist so lange her, seit du keine Nachricht hast, dass ich dir gern heute einen langen Brief schriebe, aber das wird kaum mehr möglich sein, der Tatar geht morgen früh ab und mein Lichtstümpfchen ist beinahe schon in die Bajonettdille hinabgebrannt, die als Leuchter neben mir in die Erde eingepflanzt ist. Um dich jedoch nicht länger ohne Kunde von hier zu lassen, melde ich für heute nur das Wichtigste, dass wir von Malatia aufgebrochen und mit unserem ganzen Korps hier im Lager stehen, dass ich gesund und wohl, bei sehr starkem Appetit und etwas abgerissenen Kleidern und Stiefeln bin, denn wir haben einen beschwerlichen Marsch durch den Taurus hinter uns. Hoher Schnee, tiefer Dreck, ein neunundzwanzigtägiger Regen und beschwerliche Gebirgswege haben uns viel zu schaffen gemacht; jetzt wollen wir uns hier ein wenig ausruhen und uns die Zeit mit Exerzieren und Manövrieren vertreiben. [...]
Von der Höhe unserer Verschanzungen habe ich eine prächtige Aussicht; unten im Tal am Euphrat haben wir eine Stadt aus 4000 Zelten gebaut, der gewaltig angeschwollene Strom krümmt sich um drei Seiten unseres Lagers, und jenseits erhebt sich an der weißen Felswand Biradschik mit seinen Mauern und Türmen, Moscheen und Gärten, und über alles ragt das seltsame alte Schloss Kalai-Beda empor. Hunderte von beladenen Kamelen, je fünfundzwanzig unter dem Vortritt eines Esels, steigen langsam die Berge hinab, hoch auf dem vordersten sitzt ein Araber, der auf zwei Pauken verkündet, dass er uns Mehl, Zwieback und Reis zuführt; kleine Flotten von Flößen aus Hammelfellen eilen den Strom hinab, um Holz, Stroh und andere Bedürfnisse zu bringen; zahlreiche Herden von Schafen und Ziegen hüpfen an den Talhängen, und tausende von Pferden stehen angefesselt in den Gerstenfeldern. Die Bajonette, die Lanzen und Kanonen blitzen in der Sonne und von allen Seiten erschallen Trommeln und Hörner; dort zerren Hunderte von Soldaten einen uralten 36-Pfünder, der einst Bagdad beschossen hat, den Hügel hinan, hier schaufeln und hacken andere hunderte in der harten Erde, um Schanzen aufzuwerfen. Vor den Zelten wimmelt es von Menschen: Der eine backt Brot, wie man bei uns Eierkuchen macht, indem er einen dünnen Fladen auf einer Scheibe von Eisenblech über einem Feuer von Kamelmist breitet, der andere wäscht seine Hemden, dieser putzt sein Gewehr, jener flickt seine Schuhe und alle rauchen den Tschibuk, ich nicht ausgenommen. Mitten durch das Gewühl zieht ein Regiment Spahis auf Vorposten und blickt stolz auf die irregulären Reiter herab, die mit vierzehn Fuß langen Rohrlanzen und in der alten prächtigen Tracht ihre arabischen Hengste tummeln. Wie schade, dass ich nicht eine Camera obscura von Daguerre hier habe.

(Moltke: Unter dem Halbmond , Kapitel 57-59)

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