24 Juli 2018

Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint - Anhänger

Man hat erlebt, wie ein gewisser Wahnsinn wie Brand oder Meltau im Korn oder wie physische Ansteckung in weiten Distrikten um sich greift, und so hatte auch hier in dieser entlegenen Gegend sich bald das Gerücht verbreitet, daß, wenn nicht der Heiland selbst, so zum mindesten ein Apostel, wenn kein Apostel, so doch mindestens ein heiliger Mann, wenn kein heiliger Mann, so doch mindestens ein Wunderdoktor erschienen wäre – und so fand Emanuel am dritten Morgen das Haus von einem Gewimmel bresthafter Menschen umlagert. Um das aber glaubhaft zu finden, muß man in Rücksicht ziehen, welche Bedeutung der Laienarzt, der Schäfer, die weise Frau mit den Sympathiemitteln noch immer im Bereich des gemeinen Mannes hat. Zufälligerweise war es der erste Pfingstfeiertag, der die Versammlung so vieler lahmer und blinder, hustender, fiebernder und ächzender Menschen sah. Es waren Männer wie Weiber, Kinder, Leute bei guten Jahren und Greise darunter. Die Sonne schien warm auf das kahle, steinige Feld herab, und da Martha, die den seltsamen Zustrom zuerst bemerkte, die an sich nicht ungeduldigen Leute ruhig zu warten veranlaßt hatte, saßen sie ganz gesittet auf den zerstreuten Blöcken Granits umher und harrten des wundertätigen Arztes. Es führte aber in nächster Nähe einer jener Pfade vorbei, die angelegt sind, um wanderlustigen Bewohnern der Täler und Ebenen, Städte und Dörfer die herrliche Bergwelt zu erschließen, und heute, als am ersten Pfingstfeiertage, waren alle diese Pfade schon früh von heiteren, frühlings- und wanderfrohen Menschen belebt. Einige dieser Leute blieben nun auf dem nahen Wege verwundert stehen, um das seltsame Lager zu betrachten. Nach einiger Zeit bemerkten sie, wie jemand aus der windschiefen Hütte ins Freie trat, und gleich darauf eine allgemeine Bewegung unter den Wartenden.   Emanuel Quint hatte mit äußerer Ruhe und heimlichem Herzklopfen durchs Fenster die Menge der Hilfebedürftigen wahrgenommen und schließlich den Weber Schubert hinausgesandt, damit er den Leuten sagen sollte, Quint sei nur ein armer Mann wie sie und durchaus nichts weniger als etwa ein Wundertäter. Und als nun die Leute den ihnen bekannten Weber umringten, tat er, wie ihm befohlen war, aber doch nicht auf eine so überzeugende Art, daß es den festen Glauben der ihn Bestürmenden irgend beirrt hätte. Sie traten vielmehr in dichten Schwärmen bis an die Fenster des Hauses heran: Weiber hoben mit viel Geschrei ihre Säuglinge vor die Scheiben, Männer zeigten ihr hinkendes Bein, und viele Zeigefinger waren gleichzeitig auf die Augen von Blinden gerichtet, deren Heilung zugleich mit wilden Schreien erbeten ward. Da trat der Narr mit einem stillen und festen Entschluß plötzlich in den Andrang der Mühseligen und Beladenen mutig hinaus, die sogleich die Falten seines zerschlissenen Rockes sowie seine Hände und nackten Füße mit Küssen bedeckten. Die Fremden sahen, wie der lange, groteske Mensch eine Zeitlang hilflos wie auf einer Woge des Elends schwamm.  Dann aber gelang es den Brüdern Scharf, einen Raum zwischen ihrem Idol und der sinnlosen Menge frei zu machen. Es war nun für Quint kein anderer Ausweg möglich, als daß er mit lauter Stimme das Wort ergriff und zu der ganzen Versammlung redete.
Was aber der Inhalt seiner Predigt war, wird von denen, die sie gehört haben wollen, nicht einhellig dargestellt. Auch mengte der Narr im Feuer des Augenblicks wohl allerlei widersprechende Dinge zusammen, wie sie aus eigenem Denken und Bibelerinnerungen auf seiner Zunge zusammenströmten. »Was seid ihr gekommen zu sehen?« fing er etwa zu rufen an. »Wollt ihr einen Arzt sehen? Ich bin ein Kranker und nicht ein Arzt! Wollt ihr einen Menschen in schönen Kleidern sehen? In besseren Kleidern, als jene sind, die eure kranken Glieder bedecken? Wahrlich, ich bin so schlecht bekleidet wie ihr. Die aber in guten und weichen Kleidern gehen, wohnen geruhig in ihren Palästen! Wollt ihr einen Propheten sehen, der die Sünden der Welt verflucht? Ich bin nicht gekommen, um zu verfluchen! Wollt ihr einen Menschen sehen, der mehr ist denn ihr: ein Meister der Kunst, ein Meister der Schrift? Wisset, ich bin ganz ungelehrt und bin weniger denn ihr! Ich kann weder Kranke heilen noch Tote erwecken, außer von geistlicher Krankheit und geistlicher Not, und wenn ihr dergleichen wünscht und erbittet, so wird euch vielleicht geholfen sein. Ich habe eine Taufe empfangen, eine Taufe mit Wasser! Ich aber kann nicht mit Wasser taufen, meine Taufe geschieht durch den Geist.« – Die Brüder Scharf und den Weber Schubert anblickend, fuhr er fort: »Des Menschen Sohn ist nicht in die Welt gekommen, die Seelen der Menschen zu vernichten. Er ist auch nicht in die Welt gekommen, das Joch von diesen Schultern auf jene, die Last vom Rücken der Guten auf die Rücken der Bösen zu tun, sondern er selber will alle Lasten auf sich nehmen. Wer Ohren hat zu hören, der höre: Jesus der Heiland, ihr nennt ihn wahrhaftig mit Fug den Gottessohn. Gott aber ist Geist! Jesus ward aus dem Geist geboren! Es sei ferne von uns und von euch, etwa anzunehmen, Gott sei ein Leib und es habe ein irdischer Leib seinen leiblichen Sohn hervorgebracht. Was aus dem Geist geboren ist, das ist Geist. Tretet in die Geburt des Geistes, so seid ihr in der Wiedergeburt! Geist ist der Vater, Geist der Sohn, und auch ich bin vom Geist wiedergeboren! Wohlan, ich zögere nicht, euch dies zu verkünden: wer aus dem Geiste wiedergeboren ist, der ist Gottes Sohn. Ich bin Gottes Sohn, so verstanden. Aber auch ihr: ein jeder von euch kann durch die Wiedergeburt eben das werden, was ich bin, ihr alle könnt Gottes Kinder werden.« [...]
Emanuel Quint, der unter Verachtung, Not und Entbehrung ganz anders als seine Begleiter gelitten hatte und älter war, stand doch, wie diese, in einem schäumenden Jugendrausch. Und wenn wir den ganzen Ernst seines sonderbaren Geschicks und den fest bestimmten kurzen Weg seines arg verfehlten Lebens bis an sein Ende in Rücksicht ziehen, so müssen wir dennoch sagen, es war der Reichtum an junger, überwallender Liebe, den auszugießen, und sei es mit seinem Blute zugleich, unstillbar heißes Verlangen ihn zwang. [...]
Ich sehe, die Menschen leiden Not. Ich sehe, sie wollen die Not überwinden. Ich kenne die Hoffnung, von der sie zehren, auf endliche Überwindung der Lebensnot. Ich selbst bin in Not. Ich weiß auch, wie bitter es ist, das tägliche Brot zu entbehren, Hunger zu leiden. Aber der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern er lebt von solchen Worten, die durch den Mund Gottes gegangen sind. Ihr sagt«, fuhr er fort, »daß die Arbeiter auf der ganzen Erde einen Zustand erstreben und nahe voraussehen, wo jeder die Frucht seiner Arbeit genießen wird. Ich aber sage: genießet jetzt, genießet in jedem Augenblick das lebendige Wort aus dem Munde Gottes. Wenn dereinst, wie ihr sagt, das Arbeiterparadies auf der Erde blühen wird, so werde ich weit davon entfernt im Reiche Gottes sein.« Als sie den Narren fragten, was denn und wo denn das Wort, die wahre Speise der Seele, wäre, zog er sein kleines Bibelbuch und las ihnen aus dem Evangelium Sankt Johannis: »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.« Und nachdem er diese Worte gelesen hatte, fragte ihn Christian Hassenpflug, wie es denn aber mit der Verkündigung des Reiches Gottes auf Erden, darin die Bibel doch gewissermaßen eines Sinns mit den ringenden Kräften des Gegenwartslebens sei, beschaffen wäre; da schwieg er zuerst und sagte dann: »Es sei denn, daß ihr von neuem geboren werdet, so könnet ihr das Reich Gottes nicht sehen«, womit er Johannes 3, Vers 3 in einer Weise anführte, die für ihn eine mystische Wollust war, jenes Nahrungaufnehmen des Geistes, jenes Ernährenlassen der Seele durch heilige Worte, die durch den Mund des Heilands gegangen sind. [...]
Jesus wäre für ihn der Mittler geworden und bliebe der Mittler nicht nur zwischen ihm, Quint, und Gott, sondern auch zwischen ihm, Quint, und den Menschen, zwischen ihm und der Erde, der ganzen Natur, fügte er ausdrücklich noch hinzu.
(Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint Kapitel 5)

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