11 Juli 2018

Terry Eagleton: Kultur

Terry Eagleton: Kultur 

"Der moderne Kulturbegriff hat viele Ursprünge. Bedeutung erlangte er erstmals Ende des 18. Jahrhundert als Kritik am industrialisiert muss, aber auch als Gegenpol zum Revolutionsbegriff. (S.134)
Für Jane Austen beispielsweise bis Kultur im wesentlichen eine Sache der individuellen Kultivierung. [...]
Anfang des 18. Jahrhunderts [...] hieß der Begriff, der später "Kultur" genannt wurde, noch "Höflichkeit" (politeness). Und Höflichkeit als eine Form des taktvollen, soziale Eintracht fördernden Verhaltens vereinigt Moral und Ästhetik auf eine ganz ähnliche Weise wie bei den nachfolgenden Denkern der Kulturbegriff.
Der Impetus, der dem Konzept Höflichkeit – wie später dem Kulturbegriff – zugrunde lag, war politischer Natur. (S.137)

Die Philosophie verließ Studierzimmer und Kloster und wirkte an dem neuen Projekt der moralischen und gesellschaftlichen Selbstgestaltung mit. Die Vernunft wurde neu definiert – fortan war sie eine Angelegenheit des Gesprächs, eines freien, gleichen und offenen Dialogs zwischen Gentlemen über Fragen der Ethik, des Geschmacks, der Umgangsformen und der guten Erziehung. (S.138)

Schillers Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen ist unter anderem ein politisches Gleichnis, in dem – wie so oft in der Geschichte der Philosophie – die Beziehung zwischen Denken und Sinneserfahrung große Ähnlichkeit mit der Beziehung zwischen der herrschenden Klasse und dem Volk aufweist. Es ist, als wäre das gemeine Volk ein Gesindel von ungeordneten Sinneswahrnehmungen, die dem Formwillen des Kunstwerkes unterworfen werden müssten, und als wäre die Kultur der Prozess, durch den dieses Erlösungswerk verrichtet werden könne. (S.139)

Tatsächlich wurde im Laufe des 19. Jahrhundert die Klasse der Industriearbeiter zunehmend als dunkler Kontinent im Herzen Europas angesehen, eine potentiell rebellische Macht, von der Zivilisation hervorgebracht, aber durch aus in der Lage, ihren vollkommenen Untergang herbeizuführen." (S.141)
"Nach Freuds Auffassung verinnerlichen wir das Gesetz in Gestalt des Über-Ichs, das heißt, wenn wir uns über seine Anweisung hinwegsetzen, laufen wir Gefahr, uns selbst zu schaden. Auch Burke ist sich bewusst, dass die einzige echte Souveränität diejenige ist, die wir zu unserer eigenen machen."
Seite 144/45 
"Denn wir sind – anders als die Anhänger des freien Willens glaubten – nicht transparent für uns selbst. [...]
Nach Freuds Auffassung wohnt im Herzen des Verlangens ein kleiner Fehler oder Störimpuls, der vom Ziel ablenkt und das Unterfangen zum Scheitern verurteilt. Außerdem bleibt immer ein Rest des Begehrens und erfüllt, ganz egal, wie vollständig und frei wir uns selber ausleben. [...]
Solche Überlegungen sind der romantisch-humanistischen Tradition, zu der auch Karl Marx gehört, weitgehend fremd."
Seite 145
"Nach Marx gibt es nichts Verworrenes und Unauflösliches im Inneren des Menschen, während Freud seine eigene Version der Erbsünde entwirft. Nichtsdestotrotz gibt Marx der romantischen Sichtweise eine neue Richtung. Er macht sie nutzbar für eine reale politische Kraft: die Arbeiterbewegung und den Sozialismus. [...] Seine implizite Empfehlung lautet: Verwirkliche das Selbst nur in einer Weise, die für andere die Möglichkeit schafft, dasselbe in völliger Freiheit zu tun. [...]" S.146
"Dies ist jedoch keine Patentlösung für das Problem, und der Gedanke stammt auch nicht von Marx selbst. Wie so vieles hat er ihn von Hegel übernommen. Aber er enthält eine überaus sinnvolle Moral."
Seite 146/147
"Der Kulturbegriff, der um die Wende zum 18. Jahrhundert zu einer Kritik am Industrialismus wurde, legte auch die Grundlagen zum romantischen Nationalismus."
Seite 147
"Der Nationalismus sollte sich als die erfolgreichste revolutionäre Bewegung der Moderne erweisen, sollte Reiche zu Fall bringen, Tyrannen stürzen und zur Gründung einer Vielzahl neuer politischer Staaten führen."
Seite 148
"Es gibt unzählige nationalistische Helden und ein Pantheon voller nationalistischer Heiliger und Märtyrer. Wie die Religion, so verbindet auch der Nationalismus die alltägliche Existenz mit visionärem Idealismus. Die Nation sei, so schrieb Herders Kollege Johann Gottlieb Fichte, ein Werk Gottes."
Seite 149
"Für Shelley waren Dichter die nicht anerkannten Gesetzgeber der Menschheit, eine Beschreibung, die laut W.H. Auden eher auf Geheimpolizisten zutrifft; doch mit Beginn der Krieg gegen den Kolonialismus wurden zahlreiche nationalistische Künstler echte Gesetzgeber."
Seite 149/150

"Romantische Nationalisten wie Herder begriffen Nationen als einheitlich, selbsterschaffend und selbstbestimmt. In dieser Hinsicht kann man meinen, sie ähnelten Kunstwerken. Es lässt sich kaum überschätzen, wie viel Unheil diese Lehre über die moderne Welt gebracht hat. Zunächst einmal gibt es keine einheitlichen Nationen. Die meisten Gesellschaften sind ethnisch vielfältig, und alle sind sie sozial gespalten. Nationen sind politische Konstrukte, keine Naturerscheinungen."
Seite 150
"Die Kulturindustrie zeugt weniger von der zentralen Bedeutung der Kultur als vielmehr von den expansionstischen Ambitionen des spätkapitalistischen Systems, dass nun Phantasie und Unterhaltung so umfassend kolonisieren kann, wie es einst Kenia und die Philippinen kolonisierte. Paradoxerweise büßt die Kultur ihre Autonomie umso stärker ein,  je mehr Bedeutung sie als Massenkultur gewinnt und je mehr sie als eigenständiges Phänomen erscheint. Je größer der Einfluss dieser Art Kultur, desto mehr stärkt sie ein globales System, dessen Ziele der Kultur in der normativen Bedeutung des Wortes größtenteils feindselig gegenüberstehen." (S. 176/77)
"Es gibt kein deutlicheres Beispiel für die Art und Weise, wie der Kapitalismus alles zu assimilieren bestrebt ist, was ihm einst entgegengesetzt zu sein schien ("Kultur"), als der weltweite Niedergang der Universitäten.
 Seiner Natur nach zwar etwas weniger spektakulär, zählt er doch gemeinsam mit dem Fall des Kommunismus und der Twin Towers zu den folgenschwersten Ereignissen unserer Zeit. Gegenwärtig werden die jahrhundertealten, traditionsreichen Universitäten als Zentren humaner Kritik zerschlagen, indem sie unter der Herrschaft einer philisterhaften Managerideologie in pseudokapitalistische Unternehmen umgewandelt werden. [...] (S.177/78)
Der Wert des neuen intellektuellen Proletariats der Universitätslehrkräfte wird daran gemessen, in wie weit deren Platon- oder Kopernikus-Vorlesungen der Wirtschaft zugutekommen, während arbeitslose Akademiker eine Art Lumpen-Intelligenzja bilden. [...]
Die Vorstellung, über eine persönliche Büchersammlung zu verfügen, ist so antiquiert geworden wie Bill Haley oder Röhrenhosen. [...] (S.178)
Bezeichnenderweise beginnen unter dem Eindruck solcher Krisen selbst diejenigen, von denen man meint, sie seien für das System verantwortlich, zum ersten Mal das Wort "Kapitalismus" in den Mund nehmen, statt wie sonst euphemistisch von der westlichen Demokratie oder der freien Welt zu sprechen. (S.179)
Wir stecken noch immer in einer Welt von Massenarbeitslosigkeit, skandalös überbezahlten Managern, großen Ungleichheiten und heruntergewirtschafteten öffentlichen Diensten, in einer Welt, in der der Staat immer noch als willfähriges Werkzeug derart den Interessen der herrschenden Klasse dient, wie es sich kein überzeugter Vulgärmarxist kruder hätte ausmalen können." (S.180)

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