31 Juli 2018

Die Woche mit Frau Cresspahl: „Bedankmichbrief“ an Anita Gantlik

Am 21. Juli 1968 wird Marie Henriette Cresspahl elf Jahre alt. Zum ersten Mal feiert sie nicht mit einer Kindergesellschaft, sondern mit ihrer Mutter und D. E. Der hat den Geburtstag für sie ausgerichtet, denn „wenn wir Prag hinter uns haben“, wird ihre Mutter ihn heiraten, und sie müssen „es lernen zu dritt“. D. E., Anita als Erichson bekannt, wirft sich ordentlich ins Zeug. Er singt nicht nur das Lied, „mit dem in Mecklenburg die Geburtstagskinder geweckt werden: Ich freue mich, daß du geboren bist“. [...]

Als Anita Gantlik in die neunte Klasse der Fritz-Reuter-Schule eintritt, muss sie schon lange auf eigenen Füßen stehen. Mutter und Geschwister sind bei Kriegsende ums Leben gekommen, als Elfjährige wurde sie von drei russischen Soldaten vergewaltigt. Sie hat einen Vater, „der sie zurückließ in der bäuerlichen Knechtschaft und seinen Sold von der Polizei in Jerichow für sich behielt, als wünsche er der Tochter ein Verkommen und Verrecken“. Diesem Vater verdankt sie auch ihre Staatsbürgerschaft, denn der Nazi-Sympathisant hatte seine polnische Familie nach der Besetzung Polens zu „Reichsbürgern“ erklären lassen, „weil ihm das gefällt, wie deutsche Panzer ein deutsches Dorf flachlegen“.
Dennoch schafft Anita es auf die Oberschule in Gneez, und sie schafft es auch, aus der bäuerlichen Knechtschaft herauszukommen, denn sie übersetzt für die russischen Soldaten, auch während der Schulstunden. [...]
Als bei ihr im Alter von sechzehn Jahren eine verschleppte Gonorrhoe festgestellt wird, behandelt sie in der Seuchenbaracke eine Ärztin, „die konnte sie sich leicht vorstellen mit einem Hakenkreuz am Kittel. Denn Anita wurde angefahren, als sei sie schuld, weil eine andere zu Tage getreten war. […] Anita wurde beglückwünscht, weil sie davongekommen war ohne Schmerzen: – stellen Sie sich nicht so an.“ Diese Wort richten sich an eine Sechzehnjährige, deren Diagnose bedeutet, sie wird keine Kinder bekommen können. Anita läuft aus der Seuchenbaracke davon und liegt die ganzen Sommerferien über krank im Bett. Danach befreit sie sich vom Opfertum ihrer Tante, schließt ihr Zimmer ab und trägt Kleider erwachsener Frauen, „mit Stoffen aus Wolle und reiner Rohseide“, auf Annäherungsversuche reagiert sie kühl mit der Frage: „Wozu?“ [...]
Anitas Bekanntschaft mit Gesine verläuft zögernd und muss lange ohne das Geständnis einer Freundschaft auskommen. Anita fühlt sich fremd an der neuen Schule, zu ihren Mitschüler*innen sagt sie die falschen Dinge, und sie orientiert sich nicht an der eigenen Klasse, sondern an den Jahrgängen darüber: „Haben wir einander bekannt, als Freudinnen bestimmt zu sein? Wir haben uns gehütet.“ [...]
Erst als Anita 1952 nach Westberlin gegangen ist, gestehen Gesine und sie sich ihre Freundschaft, und Anita ist ihr eine gute Freundin:
Als Jakob zu Tode gekommen und begraben war, betrug Anita sich harsch zu mir, die Patin. Sie meinte, eine Anwesenheit auf dem Friedhof wäre mir nützlich gewesen.“
Zu Anitas Verdruss tritt Gesine aus der Kirche aus, wird Marie nicht getauft, doch das Patenamt für die vaterlose Tochter ihrer Freundin tritt sie trotzdem an, denn „wenn sie enttäuscht war und betrübt“ über die Nicht-Mitgliedschaft in der evangelischen Kirch, „so unsretwegen.“ Vor beider Umzug nach New York besuchen sie Anita in Westberlin, weil Gesine den „Emigranten aus karelischen Landen“ begutachten soll, der Anita heiraten will. Vor allem will die wissen, ob er die Kinderlosigkeit tatsächlich wird ertragen können, zu der ihre Geschlechtskrankheit sie verdammt hat. Das Urteil der Freundin fällt offensichtlich positiv aus, denn die Hochzeit mit Aggie Brüshaver als zweiter Trauzeugin und Alex im Konfirmationsanzug wird eine festliche Angelegenheit.
Marie dachte an Berlin noch lange als eine von windigem Sonnenlicht durchflutete Stadt, dahin fährt man zum Heiraten.“
(FAZ 28.7.18)

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