24 Juli 2018

Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint - Jenseits der Grenze

Wikipedia: Der Narr in Christo Emanuel Quint  (Vorsicht: Spoiler)

Als Quint von der Polizei verfolgt wird, schließt er sich einem wegekundigen Schmuggler, dem böhmischen Josef an und geht mit ihm über die böhmische Grenze. Dort folgt er ihm in eine Hütte.
"In diesem Raum schien der böhmische Josef, obgleich er von niemand begrüßt wurde, heimisch zu sein. Er setzte im Dunkel den Schragen ab und entzündete in einer Fuge der Ofenkacheln ein Streichholz, das mit blauem Licht und scharfen Phosphordämpfen alsbald zu brodeln begann. Mit diesem Streichholz suchte und fand er dann eine Unschlittkerze, die im Hals einer Flasche stak. Langsam verbreitete sich das Licht und enthüllte ein jämmerliches Bild der Verwahrlosung, dessen Eindruck sogar der böhmische Josef abschwächen wollte, indem er sagte: es sähe ein wenig »kurios« hier aus. Quint, der im Bereiche des Elends und der Not zu Hause war, mußte das zugeben. Schon der beklemmende, widrige Dunst von Unrat, Fäulnis und kalter Feuchtigkeit, darin man nur widerwillig atmen konnte, drängte ihn fast ins Freie zurück. In dem Augenblick, als das Docht im Unschlitt Feuer fing, hatte er vier oder fünf Mäuse hastig über den schwarzen Lehm der Diele nach allen Seiten davonlaufen sehen. Ja, es huschte bedenklich da und dort über Fensterbretter und über den Tisch hinweg, der eine Ecke der Stube ausfüllte. Josef erklärte: »Das kommt davon, wenn sie die Katzen auffressen.« Aber Quint war bereits von einem anderen schemenhaften Anblick gebannt, ohne auf das zu merken, was Josef sagte, und wußte nicht, war es Wirklichkeit, was er sah, oder nur Einbildung seiner von allen Eindrücken dieses Tages übermüdeten Seele. Es kam ihm vor, als säße am Fenster, im schwachen Mondlicht oder wie aus Mondlicht geformt, schlohweiß in der Schwärze des Raumes, ein uraltes Weib. Quint mußte wohl, von einer tiefen Ehrfurcht berührt, irgend etwas leise geflüstert haben, denn Josef ermutigte ihn alsbald, sich ganz ohne Zwang zu betragen und laut zu reden. Er sagte, die Alte sei hundertundzehn, ja, wie manche behaupten wollten, hundertundvierzehn Jahre alt. Viele meinten, sie könne nicht sterben. Sie könne deshalb nicht sterben, weil mit ihr, zeit ihres Lebens, nicht immer alles ganz richtig gewesen sei. Er wollte sagen, sie habe gottlose Dinge getrieben mit Wettermachen und allerlei ruchloser Hexenkunst und deshalb könne sie nun, zur Strafe, die Ruhe des Todes nicht finden. In diesem Augenblick verbreitete sich ein fremdartig wunderliches Getön durch den Raum, eine Art Gesang, der Worte enthielt, der aber so unirdisch leise und rührend schwebte, daß man nicht denken konnte, er käme aus einer Menschenbrust. Denn weder, daß irgend zarte Knaben auf eine solche Weise zu singen verstünden, noch Mädchenkehlen, noch irgend Kehlen von Sängern und Sängerinnen dieser Welt, wie sie Quint in den Kirchen der Dörfer gehört hatte, geschweige, daß sie mit einer solchen rätselvollen, stillen Gewalt eine so rätselvolle, erschütternde Wirkung hervorbrächten. Kaum hatte Emanuels Ohr der Klang berührt, als er sich selbst und seine Umgebung sogleich vergessen hatte. Ohne Bewußtsein und willenlos angezogen, nahm er der singenden Greisin gegenüber – und niemand anders war es, der sang – mit tränenüberströmtem Antlitz Platz, aber ohne zu wissen, daß er weinte. Er blickte, als gelte es irgendein Geheimnis aus fremden Regionen zu erforschen, in die starren, großen und edlen Züge der Hundertjährigen, in ein Gesicht, das, von langen, offenen, schneeigen Locken umflossen, welk, aber durchsichtig-wächsern-zart und leuchtend wie das eines Kindes war.
Dies aber waren die schlichten Worte, die aus der gefangenen Seele der alten erhabenen Frau, ohne daß sie die schmalen, weißen Lippen auch nur irgendwie merkbar bewegte, hervorzitterten:
Mein Hemdlein ist genäht,
mein Bettlein ist gemacht.
Komm, o komm,
du letzte, lange Nacht. [...]
Es war aber unter ihnen ein kleiner, bleicher und buckliger Mensch, der Schwabe hieß, ein ehemaliger Schneidergesell, der, Gott weiß wie, zu ihrem Gewerbe gekommen war. Er war meist schüchtern, bewies aber seltsamerweise den größten Mut – und das wußten die Schmuggler –, wo immer Gefahr im Verzuge war. In seinem Betragen lag etwas Drolliges, was ihm die rauhesten Herzen geneigt machte, auch war er allen und immer dermaßen zu Liebesdiensten bereit, daß er überall einen oder mehrere Steine im Brette hatte. Er war Protestant, dessenungeachtet stand er jedoch auch vor jedem der sogenannten Marterln auf der böhmischen Seite still und betete, während er beim Aufstieg bald weltliche, bald geistliche Lieder wahllos durcheinander sang. Auch hatte er sonderbare Ideen, die seine Kollegen lachen machten. Er gab ihnen Schilderungen aus der Welt, die seinem beschränkten Verstande entstammten, teils geglaubt, teils bezweifelt wurden, ihn selbst aber und seine Unterhaltung geschätzt machten.  [...]
»Wartet doch mal«, sagte der böhmische Josef in das Gelächter hinein, das nach den letzten Worten des Schneidergesellen sich erhoben hatte, »wir wollen uns den August da drüben jetzt mal 'n wenig von nahe besehn. He, du dort drüben: bist du heut morgen in der Schubertbaude gewest?« wandte sich Josef an den Narren. Dieser, ganz mit der Greisin beschäftigt, nickte zur Antwort nur mit dem Kopf. Und nun wollte der böhmische Josef in einer Laune, wie sie manchmal plötzlich über ihn kam, mit den anderen Schmugglern nicht weiterspielen, wodurch, da die anderen im Verlust waren, sogleich ein großes Geschrei entstand: aber der kleine Schwarze blieb kaltblütig. Es war ihm etwas, man wußte nicht was, durch den Sinn gefahren. Hatte ihm Quint von Anfang an einen unerklärlichen Eindruck gemacht? oder dachte er plötzlich, es wäre für einen guten Katholiken, wie er selbst einer war, eine Sünde, am ersten Pfingstfeiertage Karten zu spielen? oder ward er plötzlich von Mitleid erfaßt für die Alte, die der Tod vergessen zu haben schien? Kurz, er stand auf, er trat zu dem Narren und fing mit ihm, eigentümlich seufzend, über das traurige Dasein im allgemeinen und das der Alten im besonderen zu philosophieren an. Wenn jemand mit einem solchen Ton in der Kehle zu Emanuel trat, so wußte er immer, daß der Acker bereitet war, und begann sogleich den Samen des Reiches auszusäen. Bei einem jeden solchen Beginn stand ihm Wort und Ton dermaßen rein und schlicht zu Gebot, daß es jedem wie immer gearteten Menschen weniger als ein Beginn denn als etwas Altvertrautes erschien. Da war irgend etwas Trennendes nicht mehr vorhanden, und das Innerste und Echteste der Menschennatur verband sich hemmungs- und hindernislos mit dem Innersten und dem Echtesten. Da die langausgestreckt und starr daliegende alte Frau sich kalt anfühlte, trotzdem Emanuel sie mit allerlei Lumpen und seinem eigenen Schoßrock bis an das Kinn zugedeckt hatte, holte Josef einen Ziegel herbei, der im Herde gewärmt worden war: weshalb sich vom Tisch der verlassenen Spieler Spott und Hohn über ihn ergoß und noch mehr über Quint, der ihnen den Kameraden entwendet hatte. Dagegen wurde mit einemmal der böhmische Josef von seinem gefürchteten Jähzorn gepackt und stand, den Ziegel hoch in den Händen haltend, unerwartet vor den Radaulustigen, mit einer maßlosen Drohung, die bei seiner wilden Natur nicht mißzuverstehen war. Der kleine zigeunerhaft häßliche Kerl hatte bei mancher Gelegenheit und auch in den Schenken »zum Spaß, der Lust halber« oft Proben herkulischer Kräfte abgelegt. Er hatte auch einigemal im Gefängnis gesessen, gewalttätiger Handlungen wegen, die der meist gutmütige Mensch, gereizt, in besinnungslosem Zustand verübt hatte. Jetzt rief ihn ein Wort des Narren an das Sterbelager der Greisin zurück. Auch Schwabe verließ seinen Platz neben den Spielern und trat mit schüchtern zusammengekrochenen Schritten an das Lager heran. Es war ihm die seltsam feierliche Gewißheit aufgetaucht, daß hier der große und letzte Augenblick eines mehr als hundertjährigen Lebenskampfes endlich nahe wäre. Es schien ihm auch deshalb nicht verwunderlich, als Quint den siebzigjährigen Enkel mit lauter Stimme davon verständigte.
 Es mußten dann aber beinahe noch acht Stunden vergehen, bevor die Greisin den letzten Atemzug ihres Lebens aushauchen konnte.  [...]
Diese Worte, die ohne Pathos gelesen wurden, erregten ganz anders, als von der Kanzel herab zu geschehen pflegt, die Wißbegierde der Zuhörer. Als Menschen immer und von Natur auf die Offenbarung von etwas Verborgenem gerichtet, hofften sie durch Emanuel zugleich ihn selbst und die Schrift erklärt zu sehen, die so rätselvolle Dinge andeutete. Emanuel hatte dagegen die Bibelstelle gewählt in der Meinung, sie werde für ihn sprechen, und zwar ebensowohl für das, was er sagte, als was er verschwieg, aber er hatte damit nur erreicht, daß ihn die beiden Hörer geradezu nach dem Geheimnis fragten, von dem sie, zwar nur halb und halb überzeugt, vermuteten, es wäre die wunderbare Kraft, die am rechten Ort zu heilen und zu töten verstand. Somit war er gezwungen zu sagen, er wäre aus freiem Antrieb ein Träger des Evangelii. Er habe als Kind die Taufe derer empfangen, die tote und laue Scheinchristen wären, später die Wassertaufe Johannes des Täufers und endlich die durch den Heiligen Geist: und diese, die letzte, schließe das Geheimnis des Reiches ein. »Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi«, fuhr er fort, »sei mit uns allen! Amen.« – Nachdem er diese Worte gesagt hatte, stand er auf und war im Begriff davonzugehen, als eine schlichte, saubergekleidete Frau, die Frau des Lehrers aus der Schule einer nahegelegenen, ärmlichen Berggemeinde, ins Zimmer trat. Sie sah, daß die Greisin gestorben war, der sie in Übung jahrelanger Mildtätigkeit täglich Suppe zu schicken oder selbst zu bringen pflegte. Und als sich ihr die volle Erkenntnis mitgeteilt hatte, wie ihr schwacher Versuch zur Mildtätigkeit nun von einer stärkeren Hand überboten worden war, versank sie merklich ergriffen in Stillschweigen."
(Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint - Kapitel 5)

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