26 Juli 2018

Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint - Kapitel 6

Einem bestimmten und überzeugten Wesen vermag der Zweifel, selbst in starken Naturen und gebildeten Seelen, auf die Dauer nicht standzuhalten, um wieviel weniger in einem glaubenswilligen Herzen, wie das des Lehrers war; und nachdem ihm die Scharfs immer wieder von der Predigt Quints auf dem Marktplatz der Kreisstadt, von dem Wunder, das er angeblich an ihrem Vater verrichtet hatte, von vielerlei Gebetserhörungen und wunderbaren Heilungen berichtet hatten, schien ihm die wundertätige Kraft des Gesuchten tatsächlich erwiesen zu sein: nur wußte er nicht, ob diese und seine Mission auf himmlischem oder satanischem Grunde beruhte oder vielleicht mesmeristischer Magnetismus, verbunden mit falsch verstandener, noch zu läuternder Heilandsliebe sei. Der Lehrer hatte die Brüder Scharf nach einiger Zeit in das Haus der Schuberts hinübergebracht, von wo aus sie dann während längerer Zeit ihre Nachforschungen anstellten, immer und von Stunde zu Stunde gewaltiger aufgeregt. Wer je erlebt hat, wie eine liebe, ersehnte Illusion, auf die man mit realen Bemühungen hinarbeitet, zuweilen gegen alle Vernunft ins Ungeheure wächst, den wird es auch keineswegs in Verwunderung setzen, daß bald das Schubertsche Haus zur Brutstätte vieler phantastischer Irrtümer und Gesichte geworden war. [...]
»Ich glaube nicht«, sagte die Frau, »daß er Unrechtes denkt oder tut und irgendwie Böses im Herzen trägt; ich habe auch nicht gesagt, ich hielte ihn für einen Propheten. Auch hält er sich selber nicht dafür. Mir kommt es vor, er spricht als Mensch, er handelt als Mensch und er wandelt schlechthin nur als ein Mensch.« Der Lehrer wiegte bedenklich seinen weichen Johanneskopf. »Es ist«, hub er wieder zu reden an, »nicht zu vermeiden, ihm für mancherlei die Verantwortung zuzuschieben, was, wie du ja ebenfalls weißt, geschehen ist. Tue ein jeder seine Pflicht und diene Gott im Verborgenen an dem ihm zugewiesenen Ort! Mich hat er nach meinem Wunsch und Willen und in Erhörung meiner Gebete in dieses entlegene Amt gesetzt, wo ich in dem Maße ihm näher zu sein glaube, als ich ferner gerückt von den Menschen bin. Gott hat mir bei meinem Wirken Segen gegeben und macht es mir täglich deutlich, wie ich für meine rings in ärmlichen Hütten verstreuten Bergbewohner und ihre Kinder nicht ganz ohne Nutzen bin. Daran, meine ich, lassen wir uns genügen.« [...]
Der böhmische Josef und Schwabe hatten den Tod der Greisin im Wirtshaus der Sieben Gründe bekannt gemacht und auch der erlösenden Wirkung mit besonders lauter Überzeugung Erwähnung getan, die der Wunderdoktor dabei, ihrer Meinung nach, ausgeübt hatte. Von da aus nahm das Gerücht in kurzer Zeit von Hütte zu Hütte seinen Weg, wobei auch die augenblickliche Herberge Quints, das Schulhaus, zugleich bekannt wurde. Und plötzlich, ehe es Stoppe hindern konnte, stieß Anton Scharf, zu leidenschaftlicher Glut der Zeugnisablegung hingerissen, das Fenster des Schulzimmers auf und schrie in die immer wachsende Menge hinaus, wie ein Wahnwitziger, Worte, die ihm aus der Geschichte der Apostel im Gedächtnis hafteten: »Denn Moses hat gesagt zu den Vätern: Einen Propheten wird euch der Herr euer Gott erwecken aus eueren Brüdern, gleich wie mich, den sollt ihr hören in allem, das er zu euch sagen wird. – Und es wird geschehen, welche Seele denselben Propheten nicht hören wird, die soll vertilget werden aus dem Volk!« Während nun alles dieses im Parterre und an der Vorderseite des Hauses vor sich ging, schlief der Prophet einen totenähnlichen Schlaf in der Giebelkammer. [...]
Emanuel war nun doch in seinem verhängten Zimmer von dem Lärm und Gepolter unten im Hause aufgewacht und lag horchend und grübelnd auf dem Rücken. Er deutete die Geräusche, die er schon bei den Schuberts kennengelernt hatte, sogleich auf sich und wußte, daß eine gläubige Menge, Hilfe aus aller Not von ihm fordernd, seiner wartete. Unwillkürlich die Hände faltend, betete er zu dem Göttlichen, tief versenkt in sich. Dies aber war stets das Wesen seines Gebetes, sich ganz nur als Werkzeug unter den Willen der Gottheit zu stellen. Er übersah den vergangenen Tag. Er hatte nicht das Gefühl, irgend etwas außer Gott im Leben gesucht zu haben noch auch vermöge eigenen Willens und klarer Absicht den Weg bis hierher gegangen zu sein; dennoch lautete seine Frage: »Bin ich auf rechtem Wege geschritten? Habe ich auch wirklich nicht meinen, sondern deinen Willen getan?« und er warf sich, im Geiste bemüht, den letzten Rest von eigenem Willen aus sich zu tilgen, aufs neue vor Gott aufs Angesicht und flehte: »Mache mich ganz nur zu einem Wort, einem Hauch, einem Blick, einem Herzschlag von dir! [...]
Wer kehrt zurück und wird mit Jubel empfangen von der Liebe des Vaters im Vaterhaus? Wer anders als der verlorene Sohn, der da ausgezogen war im Hochmut seines geringen Vermögens und mit den Schweinen Treber aß« – und Quint warf sich herum, rang seine Hände, drückte sein Angesicht in die Kissen und flüsterte weinend: »Ich habe gesündigt im Himmel und vor dir. Herr, Herr, ich bin nicht wert, daß ich dein Sohn heiße.« Unvermittelt gleichsam kam ein Gefühl der Zerknirschung über ihn, das mit dem glühenden Wunsche, für den Vater zu leiden, zu sterben, sich auszulöschen, verbunden war, – ein Gefühl von Schuld erfüllte ihn, deren Ursache ihm verborgen war, denn er hätte sich nicht erinnern können, jemals, wie der verlorene Sohn, mit eigenem Willen in die Fremde gegangen zu sein. Aber er zweifelte nicht an der eigenen Schuld. Und jetzt glaubte er zu begreifen, in diesem Rausch, nicht nur, warum die verirrten Schafe ihm nachfolgten, sondern auch, daß gerüstete Männer zu Pferd, mit Waffen zum Töten der Menschen, rastlos auf ihn fahndeten. Weshalb er gehetzt wurde wie ein Wild. Seine Schuld lag früher! Sie lag nicht im Irdischen. Nicht daß man Gott nachzufolgen sich bemühte, in Jesu Fußstapfen, war die Schuld, sondern daß man den Vater verlassen hatte. [...]
Es war eine tiefe Stille eingetreten, ehe Quint zu reden begann. Seine Predigt, in die das Piepsen der Sperlinge von draußen hereinschallte, ward aber an diesem Morgen in einem Ton gesprochen, der hinreißen mußte, wenn man auch ihren Inhalt meist nicht verstand. Die Kraft Jesu, begann er, sei in den Schwachen mächtig. Und der Apostel sage: wenn ich schwach bin, so bin ich stark, und also solle sich niemand fürchten etwa um seiner Schwäche willen oder weil er unwissend sei oder krank oder etwa arm. – Auch solle sich niemand fürchten, wenn er verfolgt werde von den Kindern der Welt. Jesus sei gekreuzigt, seine Apostel verfolgt und getötet worden. Aber es habe nichts auf sich mit denen, die den Leib töten. »Die da tot sind, werden getötet, die aber lebendig sind in Christo, können nicht getötet werden von den Toten. Wer Ohren hat zu hören, der höre!« fuhr er fort. »Wir wandeln im Fleisch, aber wir streiten nicht fleischlich. Wir sind der Friede, wir sind die Liebe Gottes, sonst nichts, wir sind der Geist! Christus ist in menschlichem Leibe auf Erden gewandelt. Er wandelt noch unter uns. Aber sofern wir ihn selbst mit Augen gesehen, mit den Händen berührt hätten, nach dem Fleisch, so kennen wir ihn doch jetzt nicht mehr, außer im Geist. [...]
Ihr Männer, lieben Brüder, und ihr Weiber, liebe Schwestern, fürchtet euch nicht darum, daß ich verfolgt werde. Wir haben das Zeugnis unseres Gewissens, daß wir in Einfältigkeit und göttlicher Lauterkeit, nicht in fleischlicher Weisheit auf der Welt mit Frieden wandeln. Unser Amt ist, Christum zu predigen, Versöhnung und Frieden. Haben wir Trübsal, so ängsten wir uns nicht. Ist uns bange, so verzagen wir nicht. Leiden wir Verfolgung, so werden unsere Seelen doch nicht gefangen! Werden wir unterdrückt, doch bleiben wir frei. Denn es ist keine Liebe und Sehnsucht so heiß in uns, so unwiderstehlich glühend als die, allezeit das Sterben des Herrn Jesu an unserem Leibe zu tragen und das Leben des Herrn Jesu in unseren Herzen.« [...]
Dann war es, als sei draußen vor der Tür mit einemmal ein Habicht mitten unter Scharen von Spatzen hineingestürzt: so flogen die Menschen mit lautem Gekreisch auseinander. Sogleich pflanzte sich das Geschrei in den Hausflur fort, von wo sich die Menge unter Knüffen und Gepolter ins Freie wälzte. Nun stießen auch die Weiber im Schulzimmer gellende Schreckenslaute aus, wodurch eine jähe Panik entstand, die jedermann kopflos durch Tür und Fenster ins Freie trieb. Nachdem nun jene sich von ihrer Verblüffung erholt hatten, die noch im Zimmer geblieben waren, wußten sie nicht sogleich, was etwa die allgemeine Flucht verursacht hatte. Da tönte der Ruf »Polizei!«, mit lauter Stimme warnend gerufen, durchs Fenster herein. Es waren aber außer Quint, dem Lehrer und seiner Frau, außer Martha Schubert und den Gebrüdern Scharf auch Schwabe und der böhmische Josef im Zimmer geblieben. Dieser seufzte laut und kopfschüttelnd ein »Jaja!«, schob eine Schulbank zurecht, die im Durcheinander der allgemeinen Flucht beinahe umgestürzt worden war, und sagte dann, daß alle Menschen eben leider so und nicht anders wären. Er schloß mit einer Bibelerinnerung irgendwoher: der Geist sei willig, das Fleisch sei schwach. [...]
Inzwischen war die Lehrersfrau zweien österreichischen Gendarmen entgegengegangen, die sie durchs Fenster hatte herankommen sehen. [...]

(Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint - Kapitel 6)


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