30 Juli 2023

Alfred E. Johann: Schneesturm, Heimweh und nächtlicher Bambus - Teezeremonie

 A. E. Johann: Schneesturm, Heimweh und nächtlicher Bambus, C. Bertelsmann Verlag, Gütersloh 1950.

diktierter Text:

Zwei deutsche Kriegsgefangene des Zweiten Weltkriegs sind aus einem Lager in den USA am Ohio über Kanada und Alaska geflohen und mit einem Schiff auf dem See als Stuart und Deck Hand gearbeitet haben in das von den USA besetzte Nachkriegs Japan gekommen. In Kanada Haben Sie eine japanische Familie kennen gelernt, die ihnen Verbindung zu einer japanischen Familie in Japan verschafft hat.

Sie werden freundlich aufgenommen und erleben eine Teezeremonie.

"Sie wollen uns ehren; der Alte gibt uns einen Teefest!
Ein Teefest – ? Aus dem Himmel in den fernen Osten gefallen – das bin ich, dachte Peter, Bambus, Tee, fehlt nur noch der Mond und die Kirschblüte und eine Geisha – dann ist das Märchen vollkommen. Peter wusste nicht, dass man in Japan die Teezeremonie gerade dann feiert, wenn man es nötig hat, sich zu sammeln oder schwere Entschlüsse zu fassen –! [...] Hinter den Papierscheiben glimmte ein mildes Licht auf. Die beiden Freunde wandten sich wieder der niedrigen Tür zu. Paul flüsterte:
"Komm mir nach, wenn ich die Betrachtung beendet habe, und schließe die Tür hörbar. Achte darauf, was ich dir vormache." [...] (S. 338)
Zwei Kerzen brannten, die eine neben der Schmucknische, die paar andere beleuchtete die Aschenstelle. An den Wänden zur Seite saß auf untergeschlagenen Waden eine alte Frau; neben ihr ein junger Mann und neben ihm ein junges Mädchen; oder war es eigentlich junge Frau? Neben der Herdstatt, die auf gleicher Höhe wie die angenehm federnden Bodenpolster in den Boden versenkt war, saß ein wenig seitab ein zweites junges Mädchen. Sie alle trugen Kimonos von gedämpfter Farbe, die straff über die vorgestreckten Knie gezogen waren; sie alle saßen aufrecht auf den Waden und den Hacken der nach hinten fort gestreckten Füße. Sofort dachte Peter, der immer noch vor der geöffneten Schiebetür stand: wenn mir das nur gelingt, so zu sitzen; da werden wir gleich die Beine einschlafen!
Auf den stillen blassgelben Gesichtern spiegelte sich der Kerzenschein und lockte hier und da ein Glanzlicht aus den straff nach hinten gezogenen, gescheitelten Haaren, die sich im Nacken zu schwarzen Knoten vereinten. Die Hände aller lagen still im Schoß. Über einem Holzkohlenbecken hing an einem langen Bambusstab mit Eisenhaken von der Decke herab ein seltsam bewarzter Kessel. Wasser summte und brodelte darin; ein wenig Dampf stieg unter dem Deckel hervor.
Eine einfache Feierlichkeit, eine seltsam abgeschiedene Ruhe ging von den fast maskenstillen Gesichtern aus. Die dunklen Augen folgten den Gästen kaum. Paul war ohne Eile auf seinen Strümpfen durch den Raum geschritten und hatte sich nach einer gemessenen Verbeugung vor der Schmucknische des Raums niedergelassen; sie wurde von der zweiten Kerze beleuchtet, die in einer eckigen plastikgrünen Papierlaterne steckte. Paul murmelte ein paar Worte, zischte ein wenig durch die Zähne und betrachtete das seidene Rollbild, das in der hohen Nische fast bis auf ihren blanken Holzgrund reichend, ausgehängt war.
Peter wartete immer noch; die Gelassenheit, die Ruhe, der ab gemessene Gleichmut, mit dem hier offenbar schon lange voraus ihr Empfang zu dieser stillen Stunde vorbereitet war, verwirrten ihn tief. Waren sie nicht auf der Flucht? Drohte denn nicht der ganzen Familie dieses reichen Fischhändlers schwere Bestrafung, wenn es entdeckt wurde, dass sie 
flüchtige Gefangene beherbergte?  [...] In der Tiefe des Gartens hörte Peter den Wirt hantieren. War es ein Brunnenrad, das da leise knarrte? Auch schien er das Wasser in dem steinernen Trog auszuwechseln, in dem Paul und Peter sich gewaschen hatten – lauter einfache Verrichtungen –; was war das Festliche an ihnen, an der Stille, den lautlosen wie gesammelt in die kleine Kerze blickenden Gestalten? – Er verstand es noch nicht.
Endlich war Paul mit der Betrachtung fertig, er erhob sich, senkte noch einmal das Haupt vor dem Bilde in der Nische und setzte sich dann an die freie Wand des Raumes, der Herdstatt gegenüber.
Jetzt erst bückte sich Peter durch die niedere Tür; es ging nicht anders: er kam auf den Knien im Raum an; wie ihm geheißen, schloss er hinter sich die Tür mit leisem, aber hörbaren Geräusch. Dann ließ auch er sich vor dem Rollbild nieder." (S.339/340) 
[...] Über den langen Streifen aus grober gelblicher Rohseide zogen, mit wenigen Strichen, meisterhaft angedeutet, Wildenten sausend im Flug. Tief unter ihnen, von feuchtem Dunst wie verhangen, zogen die großen Segel zweier Fischerdschunken, wie er sie in den Tagen zuvor auf See aus der Ferne gesehen hatte, irgendwohin in die Weite. Kein Rahmen umschloss das Bild. Vom rechten oberen Rande nur glitt eine Kette von zierlich verworrenen chinesischen Zeichen herab. Wie durch eine Lücke in den Wolken sah er nahe die wilden Wasservögel, die hölzernen großsegeligen Schiffe fern in der Tiefe dahinziehen – und wurde plötzlich dessen inne, dass dies ihnen beiden galt: die Schiffe, fernhin schweifend, die schnellen Tiere aus den Ödnissen, die, wie es schien sausend das Weite suchten –.
Ja, uns gilt es! In dichterischer Verklärung wollen uns diese Menschen wissen lassen, dass sie unser Schicksal begreifen, dass sie uns wohlwollen und befreundet sind. Er erhob sich, verneigte sich tief, nicht vor der Seide, aber vor dem brüderlichen Geist, der sie bebildert hatte. [...] (S.341)
Der Gastgeber ließ sich am Herde nieder, säuberte ihn ein wenig mit einem Federbesen, schichtete die Holzkohlen von neuem, dass ihre Glut sich verstärkte; Paul sagte dazu mit verhaltener Stimme einige Worte, die wie zurückhaltende Anerkennung der gemessenen Verrichtungen klangen.
Schließlich ließ Sakura Katsumi die einfachen Geräte aus Holz und Bambus ruhen und wartete, bis das Wasser zu sieden begann.
Inzwischen aber hatte sich eine so schöne Stille über den Raum gesenkt, dass auch Peter unmerklich vergaß, wie unsicher er sich gefühlt hatte. Er wusste nicht genau, was dies alles bedeutete, was ich im gedämpften Schein der beiden Kerzen vor ihm abspielte. [...] Die ruhig an den Wänden sitzenden Gestalten rührten sich kaum. Zuweilen seufze draußen der Seewind in den Zweigen; dann verstärkte sich in dem Wasserbecken nahebei der Tropfenfall, der immer im Hintergrund bescheiden hörbar blieb. Ja, Friede schwebte im wohlbemessenen Raum zwischen den Pfosten aus rohem und doch geglättetem Holz, der bräunlichen Holzdecke, den Federn der Polstermatten am Boden; Friede und Gleichmut wie eine freundliche Wolke." (S.342)
"[...] hier in der Tiefe des alten Gartens um diese stille Stunde galt keine Angst und Unrast. Die Welt war ausgeschlossen – und auch Peter ließ sich endgültig der Feier des Tees anheimsinken.
Auch ihm wurde die Schale gereicht, und er kostete gemach von dem schaumigen grasgrünen Trank; angenehm erfrischend, auf eine belebende Weise bitter rann ihm der  der Tee über die Zunge – sehr fremd!
Der Hausherr selbst hatte ihm in beiden Händen die henkellose, ungleich geformte Schale angeboten.
Nun aber schob sich die Gehilfin, die hinter dem alten Sakura gesessen hatte und ihm zur Hand gegangen war, zu Paul und Peter hinüber und bot ihnen aus einem Körbchen schwärzliche, fettglänzende Kuchen an. Peter machte es wie Paul: er spießte sie dankend mit einem Stäbchen auf und führte sie zum Munde; sie schmeckten süßlich, sehr gehaltvoll und auch sehr fremd und nie erlebt.
Peter beobachtete das Mädchen, das vor ihm hockte und ihm das Tablett mit der Konfitürenschale darbot. Sie hatte die Augen niedergeschlagen; hoch schwebten ihr die Brauen in der Stirn, wie Flügel eines schnellen Vogels gesichelt; kaum merklich schräg standen die Augen; leicht bog sich die Nase, weich in den schlanken Rundungen. Der Mund, schön und üppig geschwungen, wiederholte in seiner Unterlippe die Rundung des Kinns – das Oval des Gesichts unter dem schwarzen schweren Haar war vollkommen. (S.343)
Zierlich stieg der Hals aus dem spitzen Ausschnitt des dunkelseidenen Kimonos. Dicht unter den Armen schon schlangen sich um den schmalen Leib die verhalten prunkende steife Schärpe, der Obi, von seidener schwerer Kordel nochmals umschlossen, im Rücken zu einer schmetterlingenen Schleife kunstvoll geschlungen. Die Hände, die das Tablett hielten, zeigten sich zierlich, sehr beweglich, kleinen Vögeln ähnlich..[...]
Ehe das Mädchen vor Peter sich erhob, beugte sie sich ein wenig vor, schlug für einen Atem lang überraschend große dunkle Augen auf und flüsterte:
"Ich bin O-koe - aus Vernon. Ich soll Ihnen beistehen, befahl mein Großonkel." – Sie sagte es – auf englisch! O-koe - aus Vernon -: Hitze wie flüssiges Blei über den Tomatenfeldern – ein stämmiger, kleiner Mann in verwaschenen Overalls: der Vater also dieser, wie es schien, so sanften Mädchenblume! Peter neigte sich vor und flüsterte eben so leise:
"Das wäre wunderschön. Ich danke dir schon im voraus, O-koe-san!"
Peter hatte schon gelernt, dass man 'san' an den Namen anhängen musste, wenn man eine Person anredete, so wie wir Herr oder Frau oder Fräulein vor den Namen setzen; aber 'san' ehrt auch den Angeredeten, also etwas etwa: ehrenwertes Fräulein O-koe! Was aber bedeutete O-koe? Paul hatte es ihm schon in Vernon, in der Waldhütte gesagt; aber Peter hatte es vergessen.
Das Mädchen schlug zum zweiten Male die Augen auf und wieder war Peter fast erschrocken, wie groß und dunkel sie plötzlich vor ihm aufschimmerten. Die Ahnung eines Lächelns huschte über ihre Züge und belebte das farblose, gelbblasse Gesicht auf unsagbare Weise. – Schon war es vorüber, niemand hatte das kurze Gespräch bemerkt – vielleicht nahm nur niemand davon Kenntnis (344/345)
O-koe glitt weiter zu der alten Dame, die, in feingemusterte graue Seite gekleidet, wie ein Standbild so still die Hände im Schoß hielt und in eine Ferne blickte, die schon außerhalb der Welt zu liegen schien.
Paul inzwischen nahm die einzelnen Geräte auf, die der alte Japaner zur Bereitung des Tees benutzt hatte und weiter mit abgemessener Sicherheit verwandte, um den Herd zu putzen, die Holzkohle anzufächeln, den Tee zu quirlen, die Schale zu säubern; zu jedem einzelnen Stück schien Paul einige Worte des Lobes und der Bewunderung zu äußern, und der Hausherr wehrte bescheiden ab; die Teebüchse mochte eine Geschichte haben. Sakura-san sprach lange darüber und machte Paul auf einige Zeichen in ihrer Lasur aufmerksam; alles geschah leise und gemessen; niemand sonst sprach ein Wort. [...]
Die Mädchen traten aus der Küche und stellten nacheinander, bei Paul dem Ehrengast beginnend, vor jedem ein Tablett, das auf spannenhohen Querbrettchen ruhend zugleich die Rolle eines sehr niedrigen Tischen spielte. Viele Näpfchen aus Porzellan und aus Holz standen darauf, manche größer, manche kleiner, manche offen, manche verdeckt. Und daneben lagen die hölzernen Essstäbchen. (S.345) 
Das Bild der Gesellschaft belebt es sich nun. Jedermann beugte sich vor und begann den kalten und warmen Speisen zuzusprechen. Auch eine allgemeine Unterhaltung kam gedämpft in Gang." (S.346)

"Nun hatte aber auch Paul zu berichten, was Peter und er für weitgereiste Leute wären. Peter also stammte aus Afrika, wo seine Eltern jetzt noch in Mittel-Angola, unter portugiesischer Flagge, begütert wären. Er hätte in Berlin und Eberswalde Tropenlandwirtschaft, Forstwissenschaften und Biologie studiert, wäre dann Soldat geworden, wäre auf Schnellbooten gefahren und hätte es bis zum Leutnant zur See gebracht. Dann sei er vor der italienischen Küste ins Wasser gesprengt worden; aber ein paar freundliche Amerikaner hätten ihn herausgeangelt. Er selber, Paul Knappsack, sei – er lächelte – geborener Japaner – die anderen lächelten auch –, wäre hier in Nippon, in China und in Siam groß geworden, wo sein Vater noch jetzt – soviel er wisse und hoffe – als Exporteur von Reis und als Importeur für deutsche, schwedische und englische Industrieerzeugnisse erfolgreich tätig sei – oder gewesen sei – Paul machte eine kurze Pause hinter diesem Satz, während welcher niemand sich regte (im Hintergrund, im Dunkeln, jenseits des Friedens der Hütte, reckten immer noch die Schemen des Krieges sich mit hohlen Augen auf)." (S.350)

"Gerade setzte der alte Sakura an:
"Entschuldigen Sie mich, ich muss mich darum kümmern, ob die Mädchen alles recht in Ordnung bringen; ich habe Tusche, Pinsel und Papier bereitlegen lassen und will auch noch – –"
Er stockte; von der fernen Straßenecke her, an welcher das hohe Tor Paul und Peter eingelassen hatte, war plötzlich das Knirschen von Autoreifen zu hören, die scharf gebremst wurden. Sakura lauschte. Peter und Paul standen erstarrt; eine Autohupe erklang – unnatürlich laut in der mitternächtlichen Ruhe ringsum.
Und gleich danach vernahm Peter den Ruf einer Unke und nochmals und zum dritten Mal. O-koe stürzte lautlos aus dem Haus. [...]" (S.356)

Der letzte Abschnitt des Romans:
Bettelmönch (Komuso)

Peter und Paul gehen zu Fuß getarnt durch die Vermummung eines Komuso als Pilger nach Ise in Richtung Südjapan. Mit einer Dschunke fahren sie in Richtung Formosa, erleiden neben anderen Abenteuern Schiffbruch, sind jetzt aber wiederum - bei besserem Wetter - in Richtung Siam unterwegs.

"Pauls Brust hob sich in einem tiefen Seufzer. Er sagte: "Allmählich glaube ich es wirklich, Peter: wir sind frei!"
"Ja wir haben es geschafft! In Bangkok werde ich endlich alle die Briefe schreiben, die ich schuldig bin."
"Es wird wirklich Zeit damit, Peter! Die Schreiberei bleibt auf dir hängen. Ich habe meinen Eltern viel zu viel zu erzählen, als dass ich Lust haben werde, Briefe zu schreiben."
"Und wenn ich mit der Schreiberei fertig bin, dann geht hoffentlich bald ein Schiff nach Afrika, ein unverdächtiges, neutrales! Von Bangkok kann ich auch nach Angola an meine Eltern telegrafieren, dass ich wieder ein freier Mann bin."
"Mein Vater verfügt über viele Beziehungen, Peter. In meinen Augen bist du schon so gut wie zu Hause in deinem Afrika. Wie ich mich in die Arbeit im Geschäft stürzen werde – endlich wieder eine vernünftige Arbeit!"
"In Alaska und beim alten Sakura in British Columbia haben wir auch vernünftige Arbeit verrichtet."
"Das ist wahr; aber es war nicht unsere Arbeit!"
"Nein, unsere war es nicht. Jetzt erst sind wir wieder wir selber. Wenn nur der Wind anhält –! Er sollte uns in wenigen Tagen nach Siam bringen."
"Es kommt auf einen Tag mehr oder weniger nicht mehr an, Peter. Es ist schon jetzt der Wind der Freiheit* – und der weht rings um die Erde!" (S.486/487)

Der Wind der Freiheit ist der Titel einer gekürzten Fassung der gesamten Schneesturmtrilogie (Schneesturm (1950), Weiße Sonne (1951) und Steppenwind (1951) ).




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