Eva von Redecker: Bleibefreiheit Fischer Verlage 2023 (mit Leseprobe) (Perlentaucher)
"Eva von Redecker schreibt ihr neues Buch „Bleibefreiheit“ in die aktuellen Freiheitskämpfe hinein. Der Linken will sie ein zeitgenössisches Verständnis emanzipatorischer Freiheit bahnen, das die Verquickung in Machtstrukturen hinter sich lässt. Dafür denkt sie in ihrem schönen Buch über Freiheit nach, findet Freiheitsbilder und erzählt Freiheitsgeschichten.
Als Herausgeberin von Theodor W. Adornos und Max Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“ weiß von Redecker um die Gefahren emanzipatorischer Befreiungspraktiken: dass sich Emanzipation in ein neues Regime der Fremdbestimmung verkehren kann, wenn Freiheit mit Herrschaft und Unterdrückung befördert werden soll. Herrschaftslose Freiheit will von Redecker durch einen grundlegend erneuerten Freiheitsbegriff bahnen. [...] Seit der Antike sei Freiheit immer räumlich als Bewegungsfreiheit gedacht worden – und deswegen in Machtverhältnisse verstrickt. Bewegungsfreiheit können Menschen nämlich immer nur in abgesteckten Herrschaftsräumen erlangen. Wenn Freiheit dagegen konsequent zeitlich gedacht und gelebt werde, dann ließen sich ihre Verquickung in Unterdrückung vermeiden – so von Redecker. Ihr Leitbild zeitlicher Freiheit ist „Bleibefreiheit“: die Freiheit von Menschen und nicht-menschlichen Arten auf Erden beziehungsweise in ihren angestammten Erdteilen am Leben bleiben zu können.
So befreiend von Redeckers Freiheitsbuch ist, wird es doch von seiner schematischen Dichotomie zwischen herrschaftsförmiger räumlicher und herrschaftsloser zeitlicher Freiheit eingeholt. Dies beginnt mit der kritischen Zeitdiagnose. Zwar gewinnen Menschen in den globalen Zentren Bewegungsfreiheit in historisch nie dagewesenem Ausmaß durch die Ausbeutung der Erde und Menschen anderer Erdteile. Gleichwohl sind für das individualistisch-neoliberale Freiheitsverständnis auch Zeitaspekte zentral. Angestrebt und gefeiert wird auch das Zurückdrängen von zeitlichen Grenzen: von den Grenzen der eigenen Lebensspanne, Alter, Verfall und Tod. Zugleich wird die Befreiung von räumlichen und zeitlichen Grenzen nicht nur von Raum-, sondern auch von Zeitregimen ermöglicht: durch die Beschleunigung technischer Prozesse, sozialer Veränderungen und des individuellen Lebenstempos.
Von Redeckers These der europäischen Raumfixierung kann aber auch historisch nicht überzeugen: hat die moderne Beschleunigung doch bereits seit Beginn der Neuzeit an Fahrt aufgenommen. Zeitliche Freiheitsbegriffe zeigen sich in den prozesshaften Leitbildern der Neuzeit von Fortschritt, Emanzipation und Befreiung. Realisiert wird die prozessualisierte Freiheit in wissenschaftlichen und politischen Revolutionen. Und gerade in ihrem zeitlichen Verlauf können Befreiungsprozesse in Herrschaft, Zerstörung und Terror umschlagen – wie seit der Französischen Revolution allzu oft hat erlebt werden müssen. [...]
Die Freiheit erfüllter Gegenwart eignet sich dagegen weit besser als Konzept herrschaftsloser Freiheit. [...] Im Unterschied zur Bleibefreiheit hat erfüllte Gegenwart nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft zum eigentlichen Bezugspunkt: Eine Zukunft, die bestehende Lebens- und Herrschaftsformen nicht einfach verlängert, sondern zugunsten von Freiheit ohne Entrechtung, Unterdrückung und Ausbeutung überwindet.
In erfüllten Augenblicken wird hier und jetzt ein Vorgeschmack der Zukunft herrschaftsloser Freiheit gewonnen. [...] Von der Sehnsucht nach künftiger herrschaftsloser Freiheit können alle wichtigen emanzipatorischen Bewegungen der Gegenwart zehren: die Klima-, Demokratie- und Anti-Rassismus-Bewegungen. Zugleich fungiert die Zukunft herrschaftsloser Freiheit als kritische Instanz gegenüber emanzipatorischen Bewegungen: Nähern wir uns ihr doch nur, wenn wir hier und jetzt auf Gewalt verzichten."
(Eva von Redecker: „Bleibefreiheit“ – Die Freiheit, auch künftig auf Erden zu sein von Olivia Mitscherlich- Schönherr, FR 10.7.23)
Eva von Redecker arbeitet gern mit neu erfundenen Begriffen, hier mit Bleibefreiheit, in Revolution für das Leben mit Phantombesitz, der Fiktion, man dürfe über Menschen genauso verfügen wie über Tiere, Pflanzen und Gegenstände. Dabei darf ein Besitzer ja durchaus nicht frei über Wohnbesitz verfügen, sondern nur der Eigentümer. (Offenbar hat ihr sprachlich Phantombesitz besser gefallen als -eigentum.)
Ihr Versuch, dem Bundesverfassungsgericht zu unterstellen, es habe bei seinem Urteil zum Klimaschutzgesetz den Kindern nur einen Anteil am zukünftig zu verbrauchenden CO2 zugestanden und nicht ein ähnlich lebenswertes Leben in der zukünftigen Umwelt (sieh Freitag vom 7.7.23), kann mich nicht überzeugen.
Zur herrschaftslosen Freiheit vgl. Freiheit darf nicht mit der Unfreiheit anderer erkauft werden.
Sieh auch in diesem Blog:
von Redecker: Revolution für das Leben
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