29. Juli 1918
Vorgestern fuhr ich auf den Semmering, um Alma zu besuchen. Wollte über Samstag und Sonntag bis tief in den Montag hinein bleiben. Freute mich und war die beiden Tage vor meiner Abreise aufgeregt. [...]
Freute mich auch auf Almas Liebe. Jetzt erinnere ich mich, dass Blei vor einigen Abenden (als ich die Nacht seines Kommandodienstes bei mir in der Boltzmannstraße mit ihm durchwachte), die Bemerkung fallen ließ, es wäre niedrig, sich einer Frau in Hoffnung gegenüber nicht nach tieferem Gewissen zu benehmen, dass einem doch sage, dass der Genuss kein Selbstzweck sein kann.
Wenn ich genau hinsehe, so ist jede Minute meines Lebens on den mysteriösesten Winken erfüllt, denen ich nie recht in die Augen schauen will Den Fingerzeig jeden Augenblicks zu sehen, der warnt und für den Dummen in unseren letzten Winkel klar die Zukunft prophezeit! – Astrologie! – Man soll den Glauben an dieses Wetterleuchten in unserem moralischen Bewusstsein stärken. Es ist guter Aberglaube! – Das Gefühl für unseren freien Willen wird durch das tiefere Lauschen auf unsere innere Stimme nur gehoben! Den Ziel des freien Lebens einzig ist es, diese innere Stimme auszugraben, alle Polstertüren, die in uns ihren Schall dämpfen, einzustoßen. – Ich bin überzeugt, dass es im Grunde nie einen Zweifel geben (S.93/94) kann, dass der Apfel, den unsere Erz-Eltern vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, unverdaut vorhält, und wir in jedem Lebensaugenblick, wenn wir nur zu sehen wagen und horchen wollten, genau wissen, was gut und böse, recht und unrecht ist, oder wie immer man die Gegensätze des Bekömmlichen und Unbekömmlichen nennen will. [...]
Ich bekam das Zimmer neben dem Schlafzimmer Almas; ich war über diese glückliche Schicksalswendung entzückt. – Wir blieben, während ich meine Sachen auspackte, eine halbe Stunde allein. Beide erhofften wir voll Freude die Nacht.
Bleis Ausspruch und meine schon gute schonungsvolle Absicht hatte ich schon vergessen. Alma hatte sich den ganzen Tag über unmäßig übermüdet und außerdem zusammen mit Gucki am Harmonium, fast den ganzen zweiten Teil der 8. Sinfonie von Mahler gespielt.
Als man schlafen ging, war Frau R. fast zwei Stunden lang nicht aus Almas Zimmer fortzubekommen. Sie war durch die Musik enthusiastisch geworden und philosophierte. Am nächsten Tag, wo sie durch Arbeit und Hilfeleistung ganz an ihrem Platz war, wirkte sie besser auf mich, obgleich immer ein Rest 'nicht über die Wasserfläche kommen konnte', sie trübt.
Nach vielen halben Stunden Warten, bis endlich alle schliefen, war ich allein bei Alma. – Sie ist der einzige geniale Mensch, den ich hier kenne.
Ich glaube, dass ich sie immer mehr liebe, soweit ich lieben kann, in gewissen Gefühlen mehr sogar, als ich von meiner Fähigkeit weiß.
Ich habe mir Frauen bisher immer nur viele Monate lang vorher imaginiert und zurechtgeschwärmt. Sie waren mir wenig wirklich.
Alma ist mir wirklich. Sie ließ mir in den ersten Tagen, als wir im Konzert (Mengelberg und Schreker) uns immer wieder ansahen, nicht Zeit, sie zu imaginieren. (S.94/95)
Nach dem Konzert lud sie mich ein, mit ihr zu kommen. Wir erklärten uns einander. Trotzdem bald alles geschah, war mein Gefühl zu ihr noch lange unreif. – Als ich in die Schweiz ging (Jänner 18), und als ich in der Schweiz war, liebte ich sie mit Heimweh (dieses Gefühl ist meiner Liebe zu ihr immer beigemischt).
Es ist nicht der Tag, über diese Entwicklungen zu reden. – Heute ist sie mir wirklicher als nur ein Mensch!
Ich hatte den Fingerzeig vergessen und mich nicht beherrscht.
Wir liebten uns!
Ich schonte sie nicht.
Gegen Morgen ging ich in mein Zimmer zurück.
Der böse Tag! 28. Juli! Ich hatte noch geschlafen, es war noch Sommerdämmerung, ich werde geweckt, verstehe nicht gleich, soll sofort zum Arzt im Ort laufen (eine Stunde Weges). Die gnädige Frau ist unwohl. In ihrem Zustand könne man nicht wissen. [...] Im Gang treffe ich Frau R., die mir bedeutet, der Arzt möchte unverzüglich kommen, es sei eine fürchterlich schwere Blutung bei Frau Alma eingetreten. Ich renne aus dem Garten, auf einen falschen Weg, will abkürzen, gerate immer tiefer in hohe Wiesen. Es regnet, hat die ganze Nacht geregnet, meine Schuhe sind sofort voll Wasser, Meine Kleider so schwer wie die von Ertrunkenen, denn um nur auf die Straße zu kommen, werfe ich mich in Walddickicht.
Ich bete und schreie in Verzweiflung. Ich bin auf der Straße, kenne sie nicht, renne in eine Richtung, die unmöglich falsch sein kann. Zwei Gelübde mache ich.
1. Das Gelübde, Alma immer treu zu bleiben. Mir niemals mehr eine sexuelle Befriedigung auf leichte und unedle Art zu verschaffen.[...]
2.:Das Gelübde, nicht zu rauchen, wenn Gott nur alles gut werden lässt. Dieses zweite Gelübde, war in seine Gefühlsfassung unklar. Im Innersten gedachte ich nicht der Möglichkeit, das Rauchen ganz zu lassen. (S. 95/96)
Ich kam nach Verspätung [...] auf die richtige Straße und atemlos und durchnässt zu dem Sanatorium, wo der Arzt zu finden war.
Es war halb sechs Uhr morgens. – Ich weckte persönlich den Arzt, er zog sich an, wir machten uns auf den Weg; er entschuldigte sich, dass er anfangs langsam gehen müsse, er sei tuberkulös, dabei in unterhält er sich immer fort über Literatur, ganz unsinnig… [...]
Unterwegs traf ich Gucki (man muss zu ihr zwar jetzt Annie sagen, aber ich nenne sie trotzdem Gucki ). Sie kam von zu Hause, ging in den Orten hinunter, um nach Wien um einen Arzt zu telefonieren. Ich ließ den Doktor allein gehen und schloss mich Gucki an. Ich fühlte solche Verwandtschaft zu ihr. Sie war ruhiger als ich. Sie, die doch ihrer Mutter in einer fast antiken Vergötterung und Dienstliebe anhing. – Vielleicht konnte sie mit ihren fünfzehn Jahren das ganze noch nicht tief genug einschätzen. Oder verbarg sie in edlerer Selbstbeherrschung ihrer Aufregung. Nicht viel Jammergeschrei ist ein gutes Zeichen für einen Menschen. [...]
Wir gingen zurück.
Ich selbst musste fortwährend meine Sorgen und Gewissensbisse in Hoffnungen und Ausrufen entladen. – Gucki sprach fast gar nicht davon, sie mühte nur ununterbrochen ihre Gedanken damit ab, 'wie man doch der Mami eine Freude machen könnte'. [...] Es fand sich aber nichts. – Wir pflücken ein paar hässliche Blumen. Als wir aber in den Garten kamen, brach Gucki eine schöne Rose für die Mami ab; später schenkte sie ihr auch von ihren Büchern die gesammelten Werke von Richard Dehmel. (S.96) [...] Als es gegen Mittag ging verlangte mich Alma zu sehen. Sie gab vor, sie wolle, ehe ich wegführe, noch meine neuen Gedichte hören.
Frau R. führte mich ins Zimmer. Alma lag da sehr bleich. – Ich war meiner nicht mächtig und machte falsche Bewegungen, aus Nervosität, trotzdem ich fast weinend ihre hohe Schönheit fühlte.- In allem, was sie mit leiser Stimme sagte, war ein herrlicher Enthusiasmus, wie ihn nur ganz große Menschen im Leiden haben können. Sie ist eine gewaltige Natur trotz hysterischer Trübungen, von denen sie manchmal spricht. [...]
Sie sagt: Wenn ich nur das Kind behalten darf! [...]
Sie selbst zweifelt; in allem was sie sagt, wird sie besser und runder. Sie ist eine vollkommene Natur. [...] Ich spreche von meiner Schuld an diesem Unglück.
Sie sagt: 'Ich selbst bin ebenso schuld daran. Nicht überhaupt Schuld, Schuld! Ich kenne das gar nicht.'
Sie hält meine Hand,. Ihre Hände haben die frauenhafteste, beglückende Wärme, die ich kenne.
Sie sagt mir auch in den paar Minuten, da wir allein sind: 'Wenn du jetzt weggehst, müssen wir daran denken, dass wir uns nicht wiedersehen. Vielleicht wäre es gut, dann würdest du ein großer Dichter werden.'
Mit diesem Gedanken spielt sie immer, dass ein solches, dass dieses Leiden in mir jene Durchlebtheit (ihr Wort) bilden würde, die mir zur Größe fehlt (S.97/98)
[...] Sie gehört zu den ganz wenigen Zauberfrauen, die es gibt. Sie lebt in einer lichten (blonden) Magie, in der viel Vernichtungswille lebt, Trieb zu unterwerfen, aber das alles wolkig, feucht – während ein anderer starker Mensch, die Else Lasker-Schüler, schwarze Magie treibt, die unglaublich viel Hilfsbereitschaft, Trost, Bruderschaft und Liebe enthält, dies alles aber in romantisch-enthusiastischer Trockenheit und in Unglanz. [...]
Alma [...] hat meine Verteidigung ebenso übernommen wie meine Anklage. Sie sieht scharf und ungetrübt. Deutet jedes Organ meines Körpers. Ich glaube ihr Böses und Gutes, besonders das Böse; ich fühle mich aus meinem Körper und Gehaben erkannt. – Sie hat tatsächlich einen großen Einfluss über mich gewonnen, weil sie als Potenz da ist, als produktiver Organismus.
[...] Sie steht vor mehr als ein Mensch, der mehr Lebensbesitz, mehr Halt, mehr Richtung hat als ich selbst, und den ich daher in meinem Leben niemals töten kann, weil er unabhängig davon weiterbesteht.
Ich bete seit vielen Stunden zu Gott, es solle ihr nichts geschehen. An ihrem Bette sprachen wir nicht mehr viel. Sie bat mich, oft zu schreiben. – Ich erkläre mir hier selbst, dass ich es ungeachtet innerer Abschwächungen täglich tun will.
Ich sage ihr Lebewohl. Es wurde mir sehr schwer wegzugehen. Mein Bewusstsein war und ist durch meine Schuldgefühle erschüttert. Heute Abend, als ich nach Hause ging, sagte ich mir: 'Es ist genauso, wie wenn man einer Schwangeren auf den Bauch schlägt.' Doch lasse ich mich die ganze Zeit von ihren eigenen Worten über die Schuld bestechen. – Und in der Tat, auch ihr Leichtsinn, ihr herrlicher Selbstvernichtungswille haben schuld, denn die Formgebung ist bei der Frau. (S.98)
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