31 Juli 2023

Heinrich Heine: Über Polen

"[...] Zwischen dem Bauer und dem Edelmann stehen in Polen die Juden. Diese betragen fast mehr als den vierten Teil der Bevölkerung, treiben alle Gewerbe und können füglich der dritte Stand Polens genannt werden. Unsere Statistikkompendienmacher, die an alles den deutschen, wenigstens den französischen Maßstab legen, schreiben also mit Unrecht, daß Polen keinen tiers état habe, weil dort dieser Stand von den übrigen schroffer abgesondert ist, weil seine Glieder am Mißverständnisse des Alten Testaments – Gefallen finden – – – und weil dieselben vom Ideal gemütlicher Bürgerlichkeit, wie dasselbe in einem Nürnberger Frauentaschenbuche, unter dem Bilde reichsstädtischer Philiströsität, so niedlich und sonntäglich schmuck dargestellt wird, äußerlich noch sehr entfernt sind. Sie sehen also, daß die Juden in Polen durch Zahl und Stellung von größerer staatswirtschaftlicher Wichtigkeit sind als bei uns in Deutschland und daß, um Gediegenes über dieselben zu[562] sagen, etwas mehr dazu gehört als die großartige Leihhausanschauung gefühlvoller Romanenschreiber des Nordens oder der naturphilosophische Tiefsinn geistreicher Ladendiener des Südens. Man sagte mir, daß die Juden des Großherzogtums auf einer niedrigeren Humanitätsstufe ständen als ihre östlicheren Glaubensgenossen; ich will daher nichts Bestimmtes von polnischen Juden überhaupt sprechen und verweise Sie lieber auf David Friedländers »Über die Verbesserung der Israeliten (Juden) im Königreich Polen«, Berlin 1819. Seit dem Erscheinen dieses Buches, das, bis auf eine zu ungerechte Verkennung der Verdienste und der sittlichen Bedeutung der Rabbinen, mit einer seltenen Wahrheit- und Menschenliebe geschrieben ist, hat sich der Zustand der polnischen Juden wahrscheinlich nicht gar besonders verändert. Im Großherzogtum sollen sie einst, wie noch im übrigen Polen, alle Handwerke ausschließlich getrieben haben; jetzt aber sieht man viele christliche Handwerker aus Deutschland einwandern, und auch die polnischen Bauern scheinen an Handwerken und andern Gewerben mehr Geschmack zu finden. Seltsam aber ist es, daß der gemeine Pole gewöhnlich Schuster oder Bierbrauer und Branntweinbrenner wird. In der Wallischei, einer Vorstadt Posens, fand ich das zweite Haus immer mit einem Schuhmacherschilde verziert, und ich dachte an die Stadt Bradford in Shakespeares »Flurschütz von Wakefield«. Im preußischen Polen erlangen die Juden kein Staatsamt, die sich nicht taufen lassen; im russischen Polen werden auch die Juden zu allen Staatsämtern zugelassen, weil man es dort für zweckmäßig hält. Übrigens ist der Arsenik in den dortigen Bergwerken auch noch nicht zu einer überfrommen Philosophie sublimiert, und die Wölfe in den altpolnischen Wäldern sind noch nicht darauf abgerichtet, mit historischen Zitaten zu heulen.

Es wäre zu wünschen, daß unsere Regierung, durch zweckmäßige Mittel, den Juden des Großherzogtums mehr Liebe zum Ackerbau einzuflößen suchte; denn jüdische Ackerbauer soll es hier nur sehr wenige geben. Im russischen Polen sind sie häufig. Die Abneigung gegen den Pflug soll bei den polnischen[563] Juden daher entstanden sein, weil sie ehemals den leibeigenen Bauer in einem äußerlich so sehr traurigen Zustande sahen. Hebt sich jetzt der Bauernstand aus seiner Erniedrigung, so werden auch die Juden zum Pflug greifen. [...]"

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