20 Mai 2012
Albano sieht Idoine, "als wenn es Liane aus dem Himmel sei"
Albano kehrt anlässlich der Trauerfeier für seinen Bruder Luigi Roquairol in das Haus seiner Pflegeeltern zurück.
Seine Mutter Albine und die Schwester Rabette kamen mit ihren freudigen Mienen als höhere Menschen an sein bewegtes Herz. Sie wichen eilig zurück, Julienne flog die Treppe herab und küßte den Bruder zum erstenmal öffentlich, in einer schweigenden Vermischung von Lust und Weh. Als sie ihn losließ, fing aus der Nacht im Kirchturm das Geläute als Zeichen an, daß der tote Bruder in die Kirche einziehe; da stürzte sie wieder auf Albano zurück und weinte unendlich. Sie ging mit ihm hinauf, ohne zu sagen, wen er droben neben dem Pflegevater finde. Eine alte Flötenuhr, deren mühsames Spiel von jeher seltenen Gästen dargeboten wurde, quoll ihm, als er die Türe öffnete, mit den Nachklängen der Kindertage entgegen.
Eine weibliche lange schwarzgekleidete Gestalt mit einem seitwärts herabgehenden Schleier, welche mit seinem Pflegevater sprach, wandte sich um nach ihm, da er eintrat. Es war Idoine, aber der alte Zauberschein fuhr wieder über seine heute so bewegte Seele, als wenn es Liane aus dem Himmel sei, mit Unsterblichkeit gerüstet, auf überirdische Kräfte stolzer und kühner, nichts von der vorigen Erde mehr tragend als die Güte und den Reiz. Beide fanden sich mit gegenseitigem Erstaunen hier wieder. Julienne sah – ihrer kleinen Verhehlungen und Anstalten sich bewußt – ein rotes Wölkchen des Unwillens über Idoinens mildes Gesicht fliegen; es war aber bald unter dem Horizont, sobald Idoine es bemerkte, daß die Schwester unter dem Leichengeläute des Bruders die Tränen nicht bezwingen konnte, und sie ging ihr freundlich entgegen, ihre Hand aufsuchend. Idoine hatte, durch ihre Strenge leicht zum launischen Zürnen, diesem kleinen Kriege des Zorns, geneigt, sich durch scharfe lange Übung von [824] diesem feinsten, aber stärksten Gift des Seelenglückes freigemacht, bis sie zuletzt an ihrem Himmel stand als ein reiner, lichter Mond ohne einen Regen- und Wolkenkreis der Erde.
Albano, dem die Erde, mit Vergangenheit und Toten gefüllt, eine Luftkugel geworden war, die in dem Äther ging, fühlte sich frei zwischen seinen Sternen und ohne irdisches Bangen; er nahete sich Idoinen – obwohl bei dem Bewußtsein der kämpfenden Verhältnisse ihres und seines Hauses – mit heiligem Mute: »Ihr letzter Wunsch im letzten Garten« (sagt' er) »wurde vom Himmel gehört.« – Mit jungfräulich-entschiednem Sinn ging sie durch die Wildnis, worin sie bald Blumen, bald Dornen auseinanderzubeugen hatte, um weder verlegen noch verletzt zu werden; sie antwortete ihm: »Ich freue mich von Herzen, daß Sie Ihre treue Schwester auf immer gefunden haben.« Wehrfritz war über die Freimütigkeit, womit sie die Wahrheit redlich wider alle Familien-Verhältnisse sprach, ebenso erfreuet als verwundert. »So muß man immer auf der Erde viel verlieren,« (erwiderte ihr Albano) »um viel zu gewinnen« und wandte sich an seine Schwester, als woll' er dadurch diesem Worte einen vieldeutigern Sinn verwehren.
(146. Zykel)
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