10 Mai 2012

Schoppes Brief an Albano


Gewissermaßen war ich seit deiner Reise verdammt unglücklich bis diesen Morgen gegen 1 Uhr; – um 2 Uhr faßt' ich meinen Entschluß, jetzt um 5 die Feder, um 6, wenn ich ausgetrunken und ausgeschrieben, den Reisestab, dessen Stachel nach 2 Monaten in den Pyrenäen steht. O Himmel! mußte etwas Gestacheltes längst neben mir stehen, was ich so lange für einen Herisson nahm, indes es die beste Spielwalze voll Stifte ist, aus der ich nichts Geringeres (ich drehte sie vor einigen Stunden) haben kann als das beste Flötengedackt – unverfälschte Sphären- und Kreismusik zu den Bravourarien der drei Männer im Feuer – einen ganzen lebendigen Vaucansons-Flötenspieler von Holz – und unerhörte Sachen, womit die Maschine nicht sich einen Bruch bläset, sondern einigen Spitzbuben, wovon ich vorzüglich den Kahlkopf nenne? –[...]
Es gab einmal in alten Zeiten eine junge Zeit, eine voll Feuer und Rosen, wo der alte Schoppe seines Orts auch jung genug war – wo der alerte, anschlägige Vogel leicht heraushatte, wo der Hase liegt und die Häsin – wo der Mann sich noch mit den bekannten vier Weltteilen in Güte setzte, oder auch ebenso leicht wie ein Stier mit dem Horn nach jeder Fliege stieß – wo er, jetzt ein Silberfasan kühler Zeit, noch als ein warmer Goldfasan im ganzen Welschland auf- und abschritt oder flog und bald auf Buonarottis Moses saß, bald auf dem Coliseo, bald auf dem Ätna, bald auf der Peterskuppel und vor Lust krähete, die Flügel schlug und gen Himmel stieg. – Es war nämlich dieselbe Zeit, wo der noch ungerupfte Sturmvogel einmal in Tivoli sich durch die Wasserfälle hin- und herschwang, kostbar selig war und da gelegentlich – plötzlich – oben – in Vestas Tempel – zum ersten Male – weiter nichts erblickte als – die Prinzessin di Lauria, nachher, mutmaß' ich, von einem Vliesritter weggeholt als sein güldnes Vlies. Solche sehen – sich aus einem Sturmvogel in einen Tauber an der Venus Wagen verwandeln – von Gespann und Zügel sich abreißen – vor jene Göttin fliegen – sie in immer engern Kreisen umziehen, das alles war nicht eins, sondern dreierlei. [...]
nach beinah drei Jahren stand ich auf der zehnten Terrasse der Isola bella ganz unerwartet vor der Gräfin Cesara – Himmel und Hölle! welch ein Weib war deine Mutter! Sie warf jeden in beide auf einmal, ich weiß nicht ob deinen Vater auch. [...]
Sie hatte zwei Kinder, dich – deiner schon damals geschärften Bildung entsinn' ich mich klar – und deine Schwester, die sogenannte Severina. [...]
Mein einziger Zweck auf der schönen Insel war die Abreise von ihr und von der schönen Insulanerin, sobald ich diese abgemalt hätte. Dummes Jahrhundert, sagt' ich, will ich denn mehr von dir? Sie saß mir gern – wie auf einem Thron – ich riß, halb im Gewitter, halb im Regenbogen wohnhaft, sie ab und mußt' ihr natürlich das Bild lassen unkopiert. Aber, Jüngling, einige Buchstaben, die meinen damaligen Namen formierten und die ich aufs Bild an der Stelle des Herzens unter die Wasser-Farben schrieb und versteckte, können für dich ein Tetragrammaton, elf Sonntagsbuchstaben und Lesemütter (matres lectionis) deines Daseins werden, falls ich glücklich nach Spanien komme und in Valencia am Bildnis die Färberei von meinen Buchstaben wegwischen und nun in dessen Herzen lesen kann: Löwenskiold. So dänisch hieß ich damals. Dann ist die Gräfin Linda de Romeiro ohne Gnade deine Schwester Severina. Gott schenke nur, daß du sie nicht vor diesem Brief etwan gesehen hast und geheiratet; sie soll, wie ich gestern hörte, nach Italien abgereiset sein. Denn als ich die Gräfin Linda hier zum ersten Male sah, war mir auf dem Pestitzer Markt-Viereck, als ständ' ich oben auf der Terrasse der Isola bella und schauete die Alpen, deine Mutter, meine Jugend kaum drei Schritte vor mir! [...]
Denn die göttliche Ähnlichkeit beider ist so groß!
Ich malte auch Linda in diesem Winter. Was sie mir vom Charakter ihrer Mutter erzählte, war ganz dasselbe, was ich ihr hätte vom Charakter der Prinzessin di Lauria berichten können – Lindas Vater oder Herr von Romeiro wollte nie erscheinen, und doch ist er noch nicht verschwunden, wie ich höre – Lindas Mutter hieß sich eine Römerin und eine Verwandte des Fürsten di Lauria – In Spanien, wo ich zweimal war und fragte, wollte nirgends der Name einer Cesara wohnen – Trillionen Spinnenfäden der Wahrscheinlichkeit spinnen sich zum Ariadnens-Strick im Labyrinth – Eine neue unbekannte Schwester wird dir im gotischen Hause mit Schleiern und in Spiegeln vorgeführt – – Und zwar wird vom redlichen Kahlkopf – dem fast mehr zum Christuskopf fehlt als die Locken, und den ich im Herbste einen Hund geheißen – dirs vorgespiegelt aus wirklichen Spiegeln – Gedachter Anubis- oder Kahl-Kopf stand nun (der Himmel und der Teufel wissen am besten warum, aber ich glaub' es) als Vater des Todes auf Isola bella, lag als Handwerkspursch am Fürstengrabe und in jedem Hinterhalt, um dir deine Schwester zur Frau zu geben – – falls ichs litte; aber sobald ich jetzt zugesiegelt, brech' ich nach Spanien auf und in Lindas Bilderkabinett ein, suche nach einem gewissen Bilde ihrer Mutter, dessen Stelle und Zimmer ich mir deutlich angeben lassen – und ist es das Bild von mir: so ist alles richtig, und der Donner kann in alles schlagen – Der Kahlkopf ist schon ein Fünfviertelsbeweis
(Jean Paul:Titan, 122. Zykel)

Schoppe ist ein Freund Albanos, Bibliothekar und, wie wir hier erfahren, als Porträtist Autodidakt. Die Wikipedia bemerkt im Artikel Titan über ihn: "In Schoppe wird die idealistische Philosophie Fichtes verurteilt", fügt dann aber hinzu: "Es ist allerdings häufig festgestellt worden, dass die eigentlich zum Scheitern verurteilten Personen mehr Spannung und Interessantheit besitzen als die manchmal allzu glatt und ideal wirkende Hauptfigur Albano."

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