10 Mai 2021

Friedrich Theodor Vischer: Auch einer

Man kann diesen Roman auch aus Freude an der Erzählung lesen. Dann liest man ihn so:

"Auch Einer

von denjenigen nämlich – – – kurz, man versteht mich.

Wer es darf, hebe den ersten Stein gegen ihn auf! Ich meinesteils gedenke es nicht zu tun.

*

Ich traf ihn auf dem Dampfboot, mit dem ich auf einer Schweizerreise über den Zuger See fuhr. In der bunt zusammengewürfelten Gesellschaft, die sich auf dem Verdeck umtrieb, hätte ich ihn schwerlich bemerkt, wenn nicht ein besonderer Umstand mein Auge auf ihn gelenkt hätte. Es befand sich unter den Passagieren ein junger Mensch, jeder Zoll ein Geschäftsreisender in Baumwolle, Zigarren oder Rotwein, der sich durch sein vorlautes und eitles Wesen lästig machte. Er schien gekommen, um über alles zu spotten, was er sah und genoß; bald ging es über den Mittagstisch her, von dem er kam, bald über die Einrichtung des Boots, bald über den Schweizerdialekt, den er mit den halb gestoßenen, halb verschwommenen Lauten des eignen Idioms unglücklich genug nachzuahmen suchte; die Berge waren ihm nicht hoch, der See war ihm nicht breit genug, er verglich sie zu ihrem Schaden mit skandinavischen, irischen, amerikanischen, und die ganze Gesellschaft mußte hören, wie weit er in der Welt gewesen sei. Er spielte den Kunstkenner, sprach von Tinten, Lasuren, Clair-obscur, Konturen, versicherte übrigens, die »Schanga-Malachai« sei mehr sein »Pangschang«, als die Landschaftmalerei. Dabei wandte er sich öfters an einen ernsten Mann, den ich schon an der Wirtstafel in Zug bemerkt, der mit uns das Dampfschiff bestiegen hatte und der dem Lästigen ein beharrliches Schweigen entgegenhielt. Durch diesen Kontrast wurde meine Aufmerksamkeit auf die Erscheinung des stillen Fremdlings hingezogen. [...]"

Danach folgt man dem weiter unten angegebenen Link, das auf den Roman bei https://www.projekt-gutenberg.org/ führt und liest ihn dort weiter oder liest ihn sonst elektronisch oder in einem Papierexemplar.

(Vischer: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft1. Kapitel)


Man kann ihn aber auch als philosophischen Roman lesen, der über die Alltagserfahrung der Tücke des Objekts und den etwas ungewöhnlicheren Grundsatz "Das Moralische versteht sich von selbst." zum Solipsismus führt.

Dann greift man auf die modernere Alltagserfahrung eines Menschen zurück, der einen Computer benutzen und nicht verstehen und manipulieren können will.

Diese Alltagserfahrung führt immer wieder einmal dazu, dass der Computer nicht das tut, was er bisher getan hat, sondern sich aus einem unerfindlichen Grunde weigert. Wenn man in dieser Situation nicht voller Interesse mit Hilfe seiner informatischen Computervorkenntnisse die Freude an der Fehlersuche entwickelt und auf die Belohnung für die Entdeckung des "Fehlers" (entweder die von der Norm abweichende unbewusste eigene Handlungsweise oder - anspruchsvoller, aber umso lohnender - den bug des Programmierers) wartet, dann kommt man unweigerlich in die Situation, dass man das angebliche "Verhalten" des Computers, seine "Weigerung" zu funktionieren, als so irritierend empfindet, dass man sich über sich selbst oder über den Computer, meist aber über beides zugleich ärgert: "Ich könnte den Computer zum Fenster rauswerfen".*

In dieser Situation war kurz vor Beginn der folgenden Textstelle A.E., der seine Brille, weil sie sich hartnäckig weigerte, sich finden zu lassen, aufgrund dieser Tücke bestrafte und sie zertrat. Was tut man ohne Brille?:

»Wird sich finden, diese Teufelsbestie wenigstens hat ihre Strafe für jahrelange unbeschreibliche Bosheit. Kommen Sie, da, sehen Sie!« Er zog seine Uhr heraus; es war eines der ordinärsten, in der Tat gemeinsten Produkte der horologischen Industrie, ganz Zwiebel. »Statt dieses redlichen, treuen Wesens,« fuhr er fort, »fungierte früher eine goldene Repetieruhr, die, ich kann es sagen, ihr Stück Geld gekostet hatte; sie vergalt dieses Opfer jahraus jahrein mit Tücken jeder Art, ging nie recht, benützte arglistig jede Gelegenheit, zu fallen, sich zu verstecken, Gläser zerbrachen so viele, daß es mich bald an den Bettelstab gebracht hätte, endlich setzte sie sich mit dem Haken der goldenen Uhrenkette in Einverständnis, in Verschwörung. 
Mit den Haken, mein Herr, hat es nämlich eine eigne Bewandtnis. Das Tendenziöse, was im Objekt überhaupt liegt – darüber wäre einiges zu sagen, mein Herr, aber das ist von langer Hand – das Tendenziöse spricht sich so offenkundig in der Galgenphysiognomie der Haken aus, daß man im Umgang mit diesen hämischen Gesichtern leicht unvorsichtig wird; man denkt: dich kenne ich ja, dich verrät deine griffige, vor sich selbst warnende Bildung, du wirst mich nicht überlisten; [...] 
Ganz umgekehrt verhält es sich bei so manchen andern Objekten. Wer sollte zum Beispiel einem simplen Knopf seine Verruchtheit ansehen? Aber ein solcher Racker hat mir neulich folgenden Possen gespielt. 
Ich ließ mich gegen alle meine Grundsätze zur Teilnahme an einem Hochzeitsschmaus verleiten; eine große silberne Platte, bedeckt mit mehrerlei Zuspeisen, kam vor mich zu stehen; ich bemerkte nicht, daß sie sich etwas über den Tischrand heraus gegen meine Brust hergeschoben hatte; einer Dame, meiner Nachbarin, fällt die Gabel zu Boden, ich will sie aufheben, ein Knopf meines Rockes hatte sich mit teuflischer List unter den Rand der Platte gemacht, hebt sie, wie ich schnell aufstehe, jäh empor, der ganze Plunder, den sie trug, Saucen, Eingemachtes aller Art, zum Teil dunkelrote Flüssigkeit, rollt, rumpelt, fließt, schießt über den Tisch, ich will noch retten, schmeiße eine Weinflasche um, sie strömt ihren Inhalt über das weiße Hochzeitkleid der Braut zu meiner Linken, ich trete der Nachbarin rechts heftig auf die Zehen; ein andrer, der helfend eingreifen will, stößt eine Gemüseschüssel, ein dritter sein Glas um – o, es war ein Hallo, ein ganzes Donnerwetter, kurz ein echt tragischer Fall: die zerbrechliche Welt alles Endlichen überhaupt schien in Scherben gehen zu wollen; mich ergreift die Stimmung des Erhabenen, ich fasse zunächst eine Champagnerflasche, trete ans Fenster, öffne es, schwinge sie empor, der Bräutigam fällt mir in den Arm, ich erzürne mich, es gibt bös Blut, die Braut war ohnedies halb ohnmächtig, kurz, – ich mag nicht weiter erzählen, denn nun wurde die Sache komisch.« – [... Dann kommt A.E. wieder auf den Haken zu sprechen:]
»Ja so, ja, also: der Haken schlich in einer Nacht über das Tischchen, worauf ich die Uhr achtsam gelegt, leise hinüber nach dem Bett, nestelte sich in eine Naht des Kissenüberzugs ein, das Kissen war mir überflüssig, ich hob es rasch und warf es an das Fußende des Bettes, die Uhr nun natürlich mit; in einem prächtigen Bogen schwang sie sich an die Wand und fiel mit zersplittertem Glase nieder. Es war genug. Ich zertrat sie feierlich wie diese Verbrecherin von Brille, der Kobold gab dabei einen Ton von sich,… [danach auf  Hemdenknöpfe:] »Zuerst springen an drei Hemden die Knöpfchen ab, da ich sie anziehen will. Ja, ja, so ein Hemdknopf! Ein Bär stellt sich ehrlich zum Kampf; ich weiß, was ich zu tun, wie ich meine Waffe anzuwenden habe; einen hundertjährigen Eichbaum kann ich mit Kraft und Ausdauer umhauen; aber der Knirps! Ich soll Kraft anwenden, denn die Bestie will absolut nicht durchs Knopfloch, und ich soll sie zugleich ebensosehr gar nicht anwenden, sondern ganz fein und leicht mit den Fingerspitzen arbeiten, und indem ich mich placke, schinde, abrackere, foltere, töte, das Widersprechende zu leisten, – o lustig! springt die Schmachcanaille erst recht ab! Die Teufel nehmen Besitz vom Weibe, uns dies Scheußliche zu bereiten. Ich habe es von glaubwürdigen, wahrheitliebenden und besonnenen Ehemännern: wegen der Hemdknöpfchen heiratet man, und dann ist es erst recht nichts damit. [...] 
Da ist also zum Beispiel das Suchen, das so toll, so nervös, so wahnsinnig macht. Man verfällt ja dabei immer in den Theismus. Der liebe Gott, der oben herunterschaut, der die Haare auf unserm Haupte zählt, der mich nun stundenlang meine Brille suchen sieht, – er sieht ja auch die Brille, weiß recht gut, wo sie liegt, – ist es zum Ertragen, nun denken zu müssen, wie er lachen muß? – Allgütiges Wesen! [...]                  
 O, wir sind geboren, zu suchen, Knoten aufzudröseln, die Welt mit Hühneraugen anzusehen, und ach! zu niesen, zu husten und zu spucken! Der Mensch mit seines Hauptes gewölbter Welt, mit dem strahlenden Auge, dem Geist, der in die Tiefen und Weiten blitzt, mit dem Fühlen, das mit Silberschwingen zum Himmel aufsteigt, mit der Phantasie, die ihres Feuers goldene Ströme ausgießt über Berg und Tal und sterblich Menschenbild zum Gott verklärt, mit dem Willen, dem blanken Schwert in der Hand, zu schlichten, zu richten, zu bezwingen, mit der frommen Geduld, zu pflanzen, zu pflegen, zu wachen, daß der Baum des Lebens wachse, gedeihe und Himmelsfrucht jeder sanften Bildung trage, der Mensch mit der Engelsgestalt des ewig Schönen im ahnenden, sehnenden Busen – 
ja, dieser Mensch verwandelt in einen schleimigen Mollusken, zur klebrigen Auster erniedrigt, ein Magazin, ein Schandschlauch für vergärenden Drüsensaft, eine Schneuzmaschine, im Hals ein zackig Kratzeisen, ein Nest von Teufeln, die mit seinen Nadeln nächtelang am Kehlkopf kitzeln, die Augen trübe, das Hirn dumpf, stumpf, verstört, der Nerv giftig gereizt, und dabei erst nicht als Kranker geltend, noch geschont – und da soll es einen Gott –!« 
Hier geriet mein Gottesleugner in ein Niesen und Husten so teilnahmwerter Art, daß ich eine Bemerkung, die mir auf der Zunge lag: der Katarrh sei denn doch nicht der gewöhnliche Zustand des Menschen, gern unterdrückte; ich konnte freilich ohnedies ahnen, daß ich schlecht damit gefahren wäre. 
Dagegen wollte ich mich doch nicht enthalten, als der Paroxismus zu Ende war, vorzubringen: »Aber was machen Sie denn, wenn Sie ernstlich, schwer krank sind?« [...]
»Was haben Sie von recht Kranksein gesagt? Nun, das ist ja Geduld wert. Das Moralische versteht sich immer von selbst.« 
Er hatte inzwischen seine Reisetasche gepackt, wobei er, wie ich bemerkte, sehr geschickt zu Werke ging; es galt, viele Kleinigkeiten in engen Raum zusammenzufügen, und er brachte es ganz nett zustande; Ungeschicklichkeit, das sah ich, konnte nicht die Ursache des Kriegszustandes sein, in dem er mit dem Bagatell sich befand. [...]"

* Übrigens meine Schwester ist weit entfernt davon, ihrem Computer Tücke vorzuwerfen.
Sie sieht sehr wohl, dass nicht der Computer schuld ist, sondern die Programmierer*innen.
Deshalb ist ihr stehender Ausdruck: "Ich finde das unfair." Unfair findet sie, dass die Programmierer*innen ihr Handicap als wenig erfahrene Computernutzerin immer wieder schamlos ausnutzen, um ihr das Leben schwer zu machen. 
Ich meinerseits bin mit dem Älterwerden zum Schluss gekommen, dass unsere Gesellschaft nicht nur die Kindersicherung erfunden hat, sondern auch die Altensicherung: Schraubverschlüsse, die sich nicht aufdrehen lassen, verschweißte Verpackungen, die so eng am Produkt anliegen, dass es unmöglich erscheint, sie aufzureißen, ohne das Produkt zu beschädigen, und als besonders genial Einschaltknöpfe, die man nur findet, wenn man die Bedienungsanleitung im Internet heruntergeladen hat. Bedienung! Der Computer will bedient werden, statt mir Hilfe im Alter zu bieten.
Da sind die Aufschriften "Hier aufreißen!" noch harmlos. Man weiß schließlich aus Erfahrung, dass die Pfeile immer auf den Punkt verweisen, an dem die Verpackung (sieh oben!) am reißfesteten ist. (Mein älterer Bruder hatte schon bald stets sein Handwerkszeug parat, wenn es darum ging, etwas zu öffnen.)
Zum Glück brauchte mein Bruder nicht die exquisite Erfahrung zu machen, die das Zusammentreffen von Brillenbügel, Hörgerät und Maskenbefestigung einem bereiten, wenn beim Betreten eines Ladens blitzartig die Brille beschlägt und man sie abzusetzen versucht, zumal wenn man einen Fahrradhelm trägt und nicht die exakte Griffreihenfolge bei der Entwirrung der Befestigung geübt hat.
Bei A.E. war es übrigens nicht "Ungeschicklichkeit", die zu seinen Problemen führte (sieh oben!), bei mir - muss ich zu meiner Schande gestehen - schon eher. 

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