05 Mai 2021

Meister Gottfrieds Späße (G. Keller: Martin Salander)

 So sehr ich im allgemeinen Fontanes Briefe denen von Storm und Keller vorziehe, muss ich eine Ausnahme machen für den Briefwechsel, der nur zwischen diesen beiden stattgefunden hat. Da ist zum einen Kellers großartiges Bild von den Klosterherren:

"Es ist mir übrigens, wenn ich von dergleichen an Sie schreibe, nicht zu Mute, als ob ich von literarischen Dingen spräche, sondern eher wie einem ältlichen Klosterherren, der einem Freunde in einer anderen Abtei von den gesprenkelten Nelkenstöcken schreibt, die sie jeder an seinem Orte züchten."

Zum anderen aber auch der offene Umgang, bei dem beide vom Kunstverstand des anderen zu profitieren suchen. Auch wenn Storm bei seiner Kritik an Kellers Lyrik diesem zu weit ging (Bekannten gegenüber hat er da schon einmal geklagt, Storm gegenüber aber nicht, dafür war ihm sein Urteil zu wichtig), hat Storm es an anderer Stelle sehr gut verstanden, Kritik mit Wertschätzung zu verbinden und zwar in Bezug auf Kellers Rüpelszenen. Sehr eindrucksvoll in seinem Brief vom 27. 2.1878 (schon in seinem dritten Brief an Keller):

"Lassen Sie mich , lieber Herr Confrater, hier eines sagen ! „ Der Dichter will auch seinen Spaß haben ! “ Ich meine, dass der Spruch von Goethe stammt* . Jedenfalls lassen Sie sich dies Recht in keiner Art verkümmern ; ich für meine Person, z.B. wenn das Seldwyler Kriegsherr den Quast in seinen schwarzen Farbetopf taucht, stemme dann die Hände in die Seite, sehe ruhig zu und denke: "Ja so! der Gottfried muss erst seinen Spaß zu Ende machen!" Und er macht ihn dann auch jedes Mal zu Ende. Aber es sind Leute, kein schofles Volk, sondern gute Leute, denen ich gern den kräftigen Born ihrer Dichtung gönnen möchte; die rufen: "Das halt der Deuwel aus!" und laufen mir davon. Diese Leute sollen wir jetzt "Die sieben Aufrechten" lesen, und ich habe alle Hoffnung, dass sie danach, wenn sie wiederum einmal den Dichter auf seinem Spaß betreffen, respektvoll mit dem Hut in der Hand das Ende abwarten werden."

*Goethes Ausspruch "Der Dichter will auch seinen Spaß haben" ist von Johanna Schopenhauer überliefert und zwar in der Form: "Das muss man nun den Künstler zugeben, er will seine Freiheit, will auch seinen Spaß haben"* (nach H. H. Houben: Damals in Weimar, Erinnerungen und Briefe von und an Johanna Schopenhauer, 2. Auflage Berlin 1929 S. 57)

Hier ein Beispiel für eine solche Rüpelszene aus Martin Salander. Dargeboten wird sie von Möni Wighart. Er berichtet, wie Julian Weidelich bei seinen Betrügereien auch zwei alte Geizkragen geschädigt hatte und wie die damit umgingen:

"Noch kurz vor der Abreise hinterlegte er bei der allgemeinen Not- und Hilfsbank einen schönen, neuen, vorstandsfreien Pfandbrief von zehntausend Franken und erhielt darauf sechstausend. Als Schuldner erscheint in dem Instrument ein reicher, filziger alter Bauer hinter Lindenberg, genannt Ägidi, als Pfand dessen Hof und Land, und als Gläubiger der Bruder des Schuldners, ein anderer alter Filz, der sogenannte Schleifer in Nasenbach und bekannter Wucherer. Diese beiden Brüder führen seit Jahrzehnten eine Erbstreitigkeit um die andere, und wenn sie fertig sind, fangen sie von vorn an. Sie leben wie Hund und Katz' gegeneinander und betrachten sich gegenseitig als den Fluch ihres Daseins, ohne alle Not, da jeder für sich genug hätte. 
Gut, die alten Männer waren heute nebst manchen anderen einberufen. Man zeigte ihnen, als die Reihe an sie kam, die schöne Hypothek und fragte, ob sie in Ordnung sei? Zuerst nahm sie der angebliche Schuldner in die Hand, weil er eher mit dem Aufsetzen der Brille fertig war; im übrigen sind beide übelhörig und verstanden zunächst kein gesprochenes Wort. Kaum hatte der Hofbesitzer herausstudiert, daß er dem feindlichen Bruder zehntausend Franken schuldig sein sollte, geriet er in eine fürchterliche Aufregung und zerriß den Brief von oben bis unten so von Zorn zitternd, daß die zwei Stücke zwei Sägen ähnlich wurden. Der Schleifer aber, der nicht anders glaubte, als daß der Bruder eine ihm nützliche und zustehende Urkunde vernichte, fiel über ihn her, und augenblicklich verkrallten sich ihre Hände in den beidseitigen Halsbinden, und die Greise hämmerten sich mit den kurzen, kraftlosen Faustschlägen auf die Köpfe. Mit Mühe brachte man sie auseinander und schrie ihnen, als sie atemlos dastanden, den Sachverhalt in die Ohren. 
Allein, sobald sie vernahmen, daß irgend jemand auf das Schriftstück, das notdürftig zusammengefügt auf dem Tische lag, sechstausend Franken ausbezahlt erhalten habe, gerieten sie, ohne sich um etwas anderes zu kümmern, wieder aneinander, zerklaubten sich aber diesmal in kürzester Frist Kinn und Backen und zerrissen sich die Naslöcher. Abermals wurden sie unter großem Gelächter, das endlich den amtlichen Ernst überwand, gebändigt. Den eingebildeten Gläubiger packten zwei Männer an den Schultern, drückten ihm das Gesicht gegen den Brief und fragten ihn bei Ja und Nein, ob er diese zehntausend Franken dem Notar von Lindenberg für den Ägidibauer, der hier neben ihm stehe, selbst oder durch einen anderen übergeben und diesen nämlichen Brief dagegen empfangen und jemals besessen habe?

Nach ängstlichem Besinnen, während dessen ihm das Blut auf die unglückliche Hypothek tropfte, krächzte er schließlich: »Nein, davon weiß ich nichts! Man soll mich gehen lassen!«

»Aber ich will wissen, wer die Sechstausend auf meinem Hof gekriegt hat!« schrie der andere, dem der Zusammenhang noch immer nicht klar schien. Sie wurden jedoch ohne weiteren Bescheid vor die Tür geführt, wo die übrigen Zeugen harrten. Man gab ihnen ihre Hüte und Stecken und schickte sie fort. 

Kaum auf die Gasse gelangt, benutzte ihre verfluchte Leidenschaft die langentbehrte Gelegenheit und hetzte die betörten Filze aufs neue aneinander. Ohne zu wissen wohin, und ohne sich lassen zu können, so fesselte sie der Haß, liefen sie auf beiden Seiten der Straße fort unter greulichem Schimpfen und Drohen; es war bei Gott ein widerwärtiges Beispiel, wohin der elende Geiz und Neid sogar ein paar betagter Brüder treiben kann. Ich kam gerade dazu und lief mit dem Publikum den Rasenden nach, bis sie unversehens aneinander gerieten und mit den langen Weißdornstöcken dareinhieben, ohne sich zu treffen. Es kam dann ein Stadtpolizist und führte die armen Teufel auf die Wache. Nachher ging ich auf Vier Winden, wo ich das andere vernahm, wie ich es erzählt.

Ist das nicht ein verzwickter Streich von dem Notarius, ein köstlicher Einfall sogar, den geldstollen Brüdergreisen aus einem Pfandbriefe die Haare zu verstricken als Gläubiger und Schuldner? Viel Haare waren es freilich nicht mehr, und die spärlichen Streifen, die noch herumhingen, haben sie sich vollends ausgerauft!« [...]"

(Gottfried Keller: Martin Salander Kapitel 17)


*Wie wichtig es Goethe war, auch mal seine Freiheit, seinen Spaß zu haben, hat Albrecht Schöne bei seinen Studien der Paralipomena zu Goethes Klassischer Walpurgisnacht in Faust II aufgezeigt. Goethe hat da seinen Figuren allerlei sexuell Explizites in den Mund gelegt, was er zu seinen Lebzeiten seinem Publikum nicht hätte zumuten können. Er hat es aber sehr fein säuberlich abgeschrieben (oder schreiben lassen?) und zur eventuellen Verwendung nach seinem Tod zurückgelegt.
Dass es über 200 Jahre gedauert hat, bis diese Stellen einer Ausgabe von Faust II hinzugefügt wurden, beweist einerseits, wie richtig er seine Zeitgenossen eingeschätzt hat, und andererseits, wie gut er vorausgesehen hat, dass die Zeiten sich einmal ändern würden (und dass sein Werk dann immer noch so ernst genommen würde, dass man sich für seine Freiheiten so interessieren würde, dass sie der breiten Öffentlichkeit vorgestellt würden). 

Heute liest man so wohl einerseits respektvoller und andererseits mit weniger empathischer Liebe als Storm, der 'mit eingestemmten Händen' den Meister Gottfried 'seinen Spaß zu Ende machen' ließ.

Mehr zu den letzten Kapiteln von Martin Salander findet man im vorigen Blogbeitrag.

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