12 Mai 2021

Vischer: Auch Einer (3)

 Vischer schreibt als Ästhetikprofessor einen tragikomischen realistischen Roman. Da muss er sich natürlich mit früherer Ästhetik auseinandersetzen.

Als der seinen Helden mithilfe eines Bildes von Hölderlin aus der Ausgabe seiner Gedichte von 1843 und dem Hinweis, dass er natürlich viel anders ausgesehen hat, beschreibt, bin ich als jugendlicher Leser nach Ausweis meines Lesezeichens ausgestiegen. Heute finde ich es ganz gelungen, wie er Hölderlins Oden als große Worte ohne erkennbaren Sinnzusammenhang parodiert und zugleich erkennen lässt, dass sie einen hohen ästhetischen Reiz haben. 

Natürlich geht es ihm auch darum, durch den Vergleich seines Helden mit Hölderlin Mitleid mit ihm zu erwecken und zugleich deutlich zu machen, dass er nicht nur eine Witzfigur ist, die ständig zum Lachen reizt, sondern sehr hohe Ansprüche an sich stellt und ihnen sogar in erheblichem Umfang gerecht wird. 

Wem bei der folgenden Passage noch mehr auffällt, der ist eingeladen, das in einem Kommentar mitzuteilen. Ich werde mich jetzt leider für einige Zeit auch mal mit "real life" zu befassen haben. (Da gibt es leider immer wieder die Tücke des Objekts.)

"[...] Auf dem Vorsprung eines der granitnen Felsungeheuer eine Gestalt – ist es möglich? kann ein Mensch dort hinaufgelangen – und die Gestalt: ich erkenne sie – A. E.! Den Rücken an die Felswand gestemmt, einen Fuß vorgestellt, die Faust himmelwärts geballt – der Sturm wühlt in seinen Locken – den leichten Mantel, den er auf der Wanderung gerollt über der Schulter getragen, hat er umgenommen, er flattert in den Stößen und Wirbeln der Windsbraut, und sie zaust und zaust, bis er ihm vom Leibe gezerrt ist, dort fliegt er, bleibt an einem Dornbusch hoch an der Felswand wie eine gespießte Fledermaus hängen – aber A. E. selbst – man sieht: er spricht laut – man kann nicht hören –

Ich suchte näher zu kommen, es gelang mir mit schwierigem Klettern so weit, daß ich einige zusammenhängende Worte wenigstens in den Augenblicken vernahm, wo der Sturm, in seinem Anprall an die Hindernisse der Felsschlucht wechselweise nach allen Richtungen stoßend, von der Stelle, wo A. E. stand, nach meiner Seite her blies. Ich suche diese Bruchstücke wiederzugeben. Die Gedankenstriche, die ich dazwischen setze, sollen die Stellen anzeigen, wo das Getöse des Windes und das Rauschen der stürzenden, schäumenden Wasser mir das wilde Selbstgespräch in Stücke riß. Ich habe bisher versäumt, die Erscheinung des Mannes näher zu schildern. Es war mir vom ersten Moment an eine Aehnlichkeit mit Hölderlin aufgefallen; der Leser kennt wohl das Titelkupfer in der Ausgabe der Gedichte von 1843; der unglückliche Dichter ist hier im hohen Alter abgebildet; dieses hat nicht vermocht, dem fast regelmäßigen Profil seinen Adel zu nehmen, aber es hat im Bunde mit dem Wahnsinn die hohe Stirn, die feinen Züge tragisch zerfurcht; man verjünge diese Züge zu etwa fünfzig Jahren, denke sie sich überhaupt markiger, die Stirne etwas weniger steil, doch hoch, weniger gefaltet, doch nicht ohne einige Furchen über der Nasenwurzel, man öffne die Augen etwas weiter, lasse sie aber gleich tiefliegend unter starken Augenknochen, man ziehe die Mundwinkel ums Kennen weniger herab, so wenig nur, daß ein Gepräge von Gewohnheit bitteren Betrachtens nicht ganz aus dieser Linie verschwindet, halte aber im ganzen das wohlgebildete Profil fest, man setze diesen Kopf auf eine muskulöse Gestalt: so kann man sich eine Vorstellung von dem seltsamen Reisefreund machen, um den mich meine Härte gebracht hatte; ich muß beifügen, daß mir die Rückführung erleichtert war, da ich Hölderlin schon zu einer Zeit gesehen habe, wo jene zwei Feinde seine Erscheinung noch nicht so sehr zermürbt und gebrochen hatten. Leicht erkennt der Leser aus dem Bisherigen, daß der Ausgangspunkt der Seltsamkeiten, die er an unserm Manne kennen gelernt hat, in einer Grundstimmung, einer Ideenrichtung liegen mußte, die dem Geiste des früh verdunkelten Dichters verwandt war, aber ebenso leicht, daß der stärkeren Männlichkeit in der Erscheinung des ersteren etwas im Innern entsprach, was dem Zweiten ganz fremd war. Hölderlin war humorlos; ich kann mir nicht denken, daß der unglückliche Dichter aus dem Ernste jemals in solche Derbheit hätte umspringen können, wie A. E. es liebte. Eben an diese Derbheiten, an diese Stöße des Zorns und gröblichen Witze hatte ich schon bisher den tröstlichen Gedanken geknüpft, A. E. könne nicht der Verzweiflung, nicht dem Wahnsinn verfallen, wie der wehrlose schwäbische Sänger. Solche Umsprünge, ja Zynismen wird man nun auch mitten aus den Worten des tiefsten Seelenwehs in diesem verzweifelten Selbstgespräch heraushören, und ich gestehe, daß sie in jenen todesbangen Momenten mir doch eine gewisse Beruhigung gaben, es werde nichts Aeußerstes geschehen; so betröstete ich mich wenigstens bis zu dem Augenblick, wo –

Doch es ist Zeit, den rasenden Redner zu vernehmen, soweit das Brüllen des Sturmwinds, das Donnern der Wasser es uns vergönnt.

»Apollo – deine Kinder – Söhne des Lichts – warum nicht – leichten, rhythmischen Aetherschwingungen – – nicht sterben dürfen an deinen tödlichen Göttergeschossen – oder warum nicht – Drachen Python – warum – mit Nadeln totstechen – Ameisenhaufen – zu Tode kitzeln – Niesen – Husten – Schnäuzen – Qualle – Kaulquappe – widerliche Schnecke – – Und Gott sprach: es werde! und der Katarrh ward –«

Täuschte ich mich nicht, so konnte ich in diesem Moment von all den umgebenden furchtbaren Geräuschen ein ungeheures Räuspern unterscheiden.

»Welt – eine Erkältung des Absoluten – in der Einsamkeit – spuckte aus und die Welt war – die Welt vom Ewigen gehustet, geräuspert – Schandgallert – Brütnest der Plagteufel – Trichinen des Daseins –«

Jetzt ballte er wieder die Faust gegen einen der Felsriesen, die ihm gegenüberstanden.

»– – verhöhnst du mich? Urkerl – Schöpfungstagen – immer gleich – undurchbohrbar – Urlümmel – Schweig! – selbst ein alter Rotzler – Triefnase – – Mensch doch wenigstens Schnupftuch –«

Er gebrauchte es mächtig.

»Warum – warum, ewiger Gott, der du nicht bist – dies tiefe, starke Bewußtsein der Zwecke – Zusammenhangs – daß etwas, auch nur etwas ganz sei – Durchkreuzung – herrliche Gefühle – Kröten – über den Weg laufen – Beinstellen – uns, deren Adlersonnenblick – Ganzes – Harmonie – Freude – einmal – einmal – Blütenkelch – Feldwanze darin – Gespensterangst, Tag und Nacht – Herzensbangigkeit, tiefe – unsichtbaren Feind – Furcht? – Nie, – vor keinem sichtbaren – will endlich frei sein – frei – Angstband zerreißen – in Fetzen vor deine Füße! – Ha! Wie? Du auch da unten im Wasserstrudel, Nixe mit den Fischaugen? Kennst mich noch? Glotzt herauf? Soll ich kommen? Fort! fort! Nicht zu dir, nicht dir zulieb! – – Suwarow – weiß, – Gebrüll der Schlacht – wie so wohl, so frei – Gebeine im wütenden Wasserstrudel bleichen –«

Er tat auf der Spanne Raums über dem Abgrund einen Schritt – eine kupferrot glühende Wolke war über der Schlucht aufgezogen, scharf und dunkel hob auf ihrem Grunde die wilde Gestalt sich ab, über deren Haupt, mit rudernden Schwingen gegen die Sturmwirbel anstrebend und zappelnd und krächzend, ein Rabe flatterte, – tödliche Angst um den Unglücklichen malte mir im Nu das Bild vor, wie er zerschellt in der Tiefe liege, ein Schmaus den Vögeln des Himmels, ich mußte ihn retten, suchte weiter aufzuklettern, gelangte mit äußerster Not langsam um ein paar Schritte vorwärts, aber jetzt wackelte unter meiner Fußspitze das schmale, kaum zollbreit ausgeladene Felsstückchen und unter der greifenden Hand der kleine Zacken – ein Angstschrei – ich fiel, ich verlor das Bewußtsein.

Ich erwachte und fand mich in A. E.s Armen liegend hart am steilen Ufer der tosenden Reuß, nahe der Teufelsbrücke. Er goß mir mit der hohlen Hand eiskaltes Wasser über das Haupt. »Wie steht's?« Ich tastete an mir herum. »Suchen Sie sich zu bewegen!« Ich konnte es, nur in der rechten Hüfte und linken Schulter fühlte ich scharfe Schmerzen; er untersuchte und fand nur starke Schürfungen. Inzwischen sah ich, daß ihm selbst aus einem großen Riß im Rockärmel das Blut hervorschoß. Er zog den Rock aus, streifte den Hemdärmel auf und es zeigte sich eine lange Wunde, von einem großen Dorn oder scharfen Felszacken gerissen. Er wusch sich den Arm mit der niedertriefenden Gletschermilch einer Runse, an der wir uns befanden, und sagte: »Es ist nur eine Fleischwunde, aber verbinden!« Er stöberte in seinen Taschen, und ich mußte in allem Elend einen Augenblick lächeln, als neben zwei gebrauchten zwei ungebrauchte feine Leinwandnastücher zum Vorschein kamen. Ich half ihm den Verband anlegen und freute mich, des Gebrauchs meiner Hände fähig zu sein. Bei dieser Arbeit bemerkte ich eine lange, große Narbe, welche, durchkreuzt von der frischen Wunde, schief über den rechten Oberarm lief. »Was ist denn aber das?« fragte ich. – »Ach,« sagte er, »der Lümmel, der dänische Dragoner bei Krusau – still davon! Das Moralische versteht sich immer von selbst!«

Ich richtete mich langsam auf, tat ein paar Schritte und fand, daß ich auch leidlich gehen konnte. »Wir schleichen nach Göschenen hinunter,« sagte er, »kommen Sie.« – »Warum nicht lieber vorwärts nach Andermatt?« – »Nein, nein! dort sitzt es voll von Fremden; drunten ist's still!« Mit unendlicher Mühe wurden die Hindernisse bis zur Teufelsbrücke überwunden; er schob, zog, hielt mich, während ich weniger kletterte, als auf allen vieren kroch. Endlich war die geebnete Straße erreicht, er gab mir den gesunden Arm und mit langsamen Schritten begann die nun etwas leichtere, doch immer noch schwierige Wanderung. »Aber wie ist's denn gegangen?« fragte ich. – »Nun, ich hab' Sie auf einmal gesehen, wie Sie hingen, dann vorwärts klettern wollten. Wie ich herabgelangt bin, das weiß der Himmel, ich nicht mehr. – Sehen Sie dort!« – Er zeigte nach der Stelle. »Nicht ein Pfad, nur ein Ritzenzug im Fels, der mir für Gemsen zu ungangbar schien, – es gelang mir, just noch im rechten Augenblick unter Sie zu kommen, – Sie schreien – gleiten mir an die Schulter, ich packe Sie, – und nun, dann sind wir eben miteinander heruntergerumpelt, wie's zuging, weiß ich eben auch nicht mehr – es ist ja recht gnädig abgelaufen – nicht immer können die Geister doch das Gute stören. Frau von Vorsehung, geborene Zufall, hat sich diesmal doch ganz ordentlich gehalten.«

Wir schwiegen lange, dann fing er, in den Anblick der stürzenden Wasser vertieft, an: »Wissen Sie, wo die Schönheit liegt in dem Vers: ›Es stürzt der Fels und über ihn die Flut?‹ Gar nicht bloß im Klang der Vokale und Konsonanten und nicht bloß im Kraftstoß der einsilbigen Wörter; nein, hauptsächlich in der Cäsur, die mitten in das Wort ›über‹ fällt. Wie die Woge da – sehen Sie hin – über den glatt gespülten Felsblock rinnt, so das Wort über den Verseinschnitt.«

Eine solche lehrhafte Bemerkung in solcher Stunde wollte mir im ersten Augenblick schulmeisterhaft erscheinen, aber schnell besann ich mich, daß ich darin vielmehr ein Zeugnis sokratischer Geisteskraft zu achten hatte; ich fand die Reflexion fein und richtig und die heilsame Kühle wissenschaftlichen Denkens drang mir beruhigend in die erschütterte Seele, ja ich meinte zu fühlen, daß sie von innen auf die zerstoßene, brennende Haut herausdringe. [...]"

(Vischer: Auch Einer, 3. Kapitel)

Wer mit dem Verständnis des Romans rascher vorankommen will, dem sei der Blogbeitrag von Herrn Rau über "Auch Einer" empfohlen. Er hat mich zur Lektüre des Romans angeregt. Ob ich damit wesentlich über die Seite 57 hinauskomme, muss sich erst noch zeigen. 

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