21 Mai 2021

Vischer: Auch Einer (5) Pfahlbauerzählung

Im Roman wird die Pfahlbauerzählung als Werk von A.E. eingeführt, das er dem Ich-Erzähler unter dem Titel “Der Besuch. Eine Pfahldorfgeschichte” vorstellt.
Entsprechend spielt A.E.s besonderes Verhältnis zum Katarrh hier eine wichtige Rolle.
Räuspern, Husten und Niesen bestimmen das Verhältnis zu den Gottheiten (Selinur, Grippo und der unbekannte Gott) und können als sakrale Handlung verstanden werden.
Da hier die Mädchen weniger erkältungsanfällig sind, erklärt es sich, dass sie dem Gottheiten und dem Kult weniger nahe stehen, also als etwas minderwertig angesehen werden. (vgl. auch Lehrerzimmer: Auch Einer Teil 2)


Der Druide räuspert sich und hustet, gemessen, feierlich. Die Gemeinde folgt seinem Beispiel, ebenso die Kinder, mit Nachdruck die Knaben, schwächer und unzulänglicher die Mädchen. Der Druide intoniert einen Gesang, ein kurzes, geistliches Lied, dessen Text wir nicht hersetzen, weil er in poetischer Kürze nur enthält, was wir jetzt aus Fragen und Antworten ausführlicher entnehmen werden.

Mit freundlich väterlichem Tone beginnt nun der Priester: »Ihr sollt heute zeigen, liebe Kinder, ob ihr im Glauben fest seid und wohl vorbereitet, aus dem Kindesalter überzutreten in das Alter des Jünglings und der Jungfrau, auf daß ihr nicht erlieget den Versuchungen der Jugend, den Gefahren der Welt, sondern wandelt als ehrsame Glieder dieser frommen Heidengemeinde, bis ihr einst das Irdische segnet und ausgenommen werdet in das Paradies, das da ist im lichten blauen Zelt über den Sternen.«

Es beginnen nun die Fragen, deren wichtigsten Teil wir mit den Antworten ihrer Reihe nach hersetzen.

1. Warum wohnen wir auf den Seen?

Weil es Selinur befohlen hat.

2. Woher weißt du das?

Es stehet geschrieben.

3. Wo stehet es geschrieben?

Auf dem heiligen Buchstab.

Wobei das Kind zu dem oben erwähnten Stab aufschaut und hindeutet.

4. Hat Selinur uns geoffenbart, warum sie es befohlen hat?

Ja.

5. Hat sie es befohlen aus weltlichen Gründen?

So meinen die törichten Weltmenschen.

6. Was meinen denn die törichten Weltmenschen?

Sie meinen, wir wohnen auf den Seen, um Schutz zu haben vor wilden Tieren und vor Feinden.

7. Warum ist dieses töricht?

Weil unsre Seen im Winter zufrieren, so daß uns böse Tiere und Menschen leicht erreichen könnten, wenn wir sie nicht anders abwehrten.

8. Was ist der wahre Grund, aus welchem Selinur es befohlen?

Zum Heil unsres Leibes und unsrer Seele.

9. Wer ist denn Selinur?

Die große Mutter aller Dinge, die da wohnet im Monde, die da gesponnen hat auf heiliger Spindel Erde und Wasser und Luft und Gras und Bäume und Tiere und Menschen und diesen oft erschienen ist als weiße Kuh.

10. Was tat sie, als sie den Menschen gesponnen?

Sie blies ihm den lebendigen Odem durch die Nase.

11. Was tat der Mensch hierauf?

Er nos.

Richtig, liebes Heidenkind, aber man sagt nicht: er nos, sondern: er nieste.

Der Knabe, ein allerliebster Lockenkopf, wurde feuerrot. Der Druide streichelte ihm freundlich die Wange. In diesem Augenblick mußte der Junge selbst niesen. Ein wohlwollendes Nicken und Lächeln ging durch die Gemeinde. Der Druide fragt weiter den nächsten Knaben.

12. Was bedeutet es aber, daß der Mensch niesen mußte?

Es bedeutete, daß er solle leben und sich bewegen und eine Seele haben und aber auch unterworfen sein dem schlimmen Reize, denselbigen aber ausstoßen und sich läutern, auf daß er werde rein, klar und gut.

13. Wer hat solches bemerket und zum Uebel gewendet und will den Menschen damit verderben?

Der böse Grippo.

14. Wer ist Grippo?

Der Geist der Finsternis, der große Molch, der da erzeuget ist im Urschlamm, der Drache aus dem Pfuhl, der furchtbare Entzünder.

Das Kind blickt mit Schauer nach der Molchgestalt auf dem hohen Blocke links vom Dolmen.

15. Sollen wir ein so finsteres Wesen hassen und verachten?

Scheuen sollen wir es und begütigen durch Opfer.

16. Was für Opfer?

Lämmer, Böcke, Stiere.

17. Sind nicht in schweren Fällen noch andre Opfer nötig?

Ja.

18. Was für?

Menschenopfer.

19. Wozu sind Menschenopfer außerdem noch gut?

Wahrzusagen aus den Zuckungen der Sterbenden.

20. Aus welchem besonderen Grunde sollen wir Grippo scheuen und ihm opfern?

Weil der große Grippo auch ist der Gott des Kriegs und dem Volke, dem er gnädig, aus dem Hirnreize des Pfnüssels entzündet die Aergawydd, das heißt die Schlachtwut, den Feind aber schläget mit Stumpfheit und Dumpfheit, die da ist eine Frucht desselbigen Uebels.

21. Was aber ist dies für ein Uebel, sofern es nicht also dienet, sondern uns verderbet?

Es beginnet in der Nase und im Hals und will nicht heilen und gehet hinab in den Magen und in alle Gedärme und wird Stockschnupfen, bleibende Verschleimung, jahrelanger Husten, sei es einfacher oder Keuchhusten, Glutgift, das da dringet durch alle innere Haut und Fleisch, Blut, Mark und Knochen, und tötet öfters schmachvoll den Menschen im Wust, der da gleichet dem Urschlamm, woraus Grippo erzeuget ist.

22. Welchen Schaden nimmt dadurch die Seele des Menschen?

Sie wird zuerst dumpf und stumpf, hierauf erzeuget sich, wenn die Augen brennen und die Ohren blaurot werden, Erbitterung, Zorn, Grimm, Wut, steigen auf arge Gedanken, Haß, Bosheit, Mord, Raub und alle Laster, kurz die Sünde.

23. Können wir uns davor schirmen und retten durch uns selbst?

Ach, nein!

24. Warum nicht?

Weil vor dem Feuerqualm des Gottes sich nicht gehütet hat Urnar der erste Mensch und hat vererbet auf alle seine Kinder und Kindskinder den bösen Hang zum giftigen Pfnüssel.

25. Wer allein kann uns helfen?

Die große Göttin, welche liebet die Menschen, die Weltmutter Selinur.

26. Was hat die große Gottheit getan zu unserm Heile?

Sie hat sich unser erbarmet und uns geoffenbaret, wir sollen wohnen auf den Seen, als da geschrieben stehet Buchstab Zeile 2.

27. Kann uns die große Mutter ganz bewahren vor dem Uebel?

Nein, es ist zu spät. Aber sie kann das Uebel selbst zum Guten wenden.

28. Sage mir dieses nun deutlicher.

Wir sollen wohnen auf den Seen, weil allda der feuchte Nebel über dem Wasser den Pfnüssel zu regelmäßigen Fristen hervorbringt und aber der Mondschein, der da ausgehet von der Göttin Selinur und im Nebel dämmert und wallet, ebendenselbigen Pfnüssel gesetzmäßig ausbrütet, auskocht, ausheilet.

29. Welches sind diese Fristen?

Vier im Jahre: Anfang März, Anfang Juni, Anfang September, Anfang Dezember.

30. In welchem Zeitpunkte befinden wir uns jetzo?

Im Anfang der dritten Heilwoche des September, da in der letzten großen Hust- und Niesnacht das Uebel sich ersprießlich gelöset hat.

31. Was ist die Frucht solcher Auskochung und Ausschüttung?

Leib und Seele wird geläutert und der Geist wird offen, Selinur zu erkennen, zu verehren und ihr zu dienen mit guten Werken und viel Gebet.

32. Wen würdiget Selinur besonders solcher ordentlicher Verkältung und folgender Läuterung?

Fromme Menschen.

33. Wodurch äußert sich der Beginn der jedesmaligen Läuterung?

Durch kräftiges, helles, gesundes und biederes Husten.

Es läuft hier durch die versammelte Gemeinde eine geordnete Reihe solcher stoßenden Kehlvorgänge, wobei jene Männer, die wir schon unter dem Namen alte Huster aufgeführt haben, sich durch besonders feierliche Aktion auszeichnen.

34. Wer stehet der großen Göttin in diesem heilsamen Werke noch insbesondere bei?

Die heiligen Feen, ihre Dienerinnen, die schönen, die weißen.

35. Wo sind diese?

Sie schweben und weben mit den Strahlen des Mondes in den Lüften überall und besonders im Schilf, im Röhricht der Seen, und singen geheimnisvolle Lieder und niesen sanft.

36. Hat der wilde Grippo auch Gehilfen?

Ja, die Korrig, das sind die bösen schwarzen Zwerge.

37. Wo wohnen solche?

In der Zugluft.

38. Welche Waffen führen sie?

Feine Binsen, Distelstacheln, Schneidgrasspitzen, Dorne, Brennesseln, Büschel aus Raupenhaaren, Barte der Gerstenähre, womit sie in der Nase kitzeln, im Schlunde kratzen und stechen und hinablangen tief ins Innere des Menschen, Fläschchen voll brennenden Giftes, das sie in die Blutadern spritzen, Bretter, die sie dem Menschen vor die Stirne nageln, daß er wird verstöret und seine Seele verfinstert und verblendet, daß sie nicht mehr kann unterscheiden Recht und Unrecht, Gut und Böse.

Der Druide hielt nun einige Minuten inne und man sah ihm an, daß es ein schwieriger Punkt sein müsse, zu dem er zaudere überzugehen; dann fragte er weiter:

39. Sind mehr als nur die zwei großen Götter?

Ja, es ist noch ein Gott.

40. Wie heißt er?

Der unbekannte Gott.

41. Was wissen wir von ihm?

Nichts.

42. Woher wissen wir, daß er ist?

Es steht auf dem heiligen Buchstab Zeile 7

43. Wie sollen wir ihm dienen?

Wir sollen sagen am Schluß aller unsrer Gebete.

Sei auch du uns gnädig, unbekannter Gott!

Nachdem dies letztere Thema in solcher Kürze absolviert war, wandte sich der Fragende, sichtbar erleichtert, zu einem andern, das ihm weniger peinlich zu sein schien.

44. Wie erlangen wir Gehör bei den Göttern?

Allein durch die Druiden, welche sind die Mittler zwischen der Gottheit und dem Menschen und welche zweierlei Gewalt haben: den Frommen die göttliche Gnade zu öffnen, den Gottlosen zu verschließen.

45. Wer hat den heiligen Orden der Druiden gestiftet?

Taliesin oder Strahlenstirn, der als Zwerg Gwyon genossen aus dem Wundertopfe der Fee Coridwen, von ihr verschluckt worden ist als Weizenkorn und aus ihr geboren als Grundbesitzer aller Gnadengaben des Geistes und solche verliehen hat dem heiligen Orden, den er gegründet.

Bei Erwähnung des Zwergs Gwyon zuckte etwas wie verhaltenes Lächeln in den Zügen des antwortenden Kinder und die Gemeinde schien ähnlich gestimmt, doch alle Gesichter wurden wieder sehr ernst bei dem Schlußsatze von der Gründung des ehrwürdigen Druidenordens.

46. Was ist die größte Gottlosigkeit?

Zu leugnen, daß Selinur sei und ihre heiligen Feen, und zu leugnen, daß Grippo sei und seine schwarzen Zwerge, und nicht zu gehorchen dem Willen der Götter, der da spricht aus den Druiden.

47. So ein Mensch sich also verhärtet und verstocket, was soll ihm geschehen?

Die Antwort auf diese Frage war an ein Mädchen gekommen. Es fing an:

Er soll werden gepfählet oder –

Hier stockte es, zuckte zusammen und zitterte. Der Druide nahm es freundlich an der Hand und sagte: »Wart, liebes Kind, ich helfe dir, sprich nur zugleich mit mir.« Gestützt und getragen von der Stimme des Priesters brachte nun das Kind mühsam die Worte hervor:

oder gekreuzigt oder soll ihm mit Horndolch aufgeschlitzt werden die Brust oder der Bauch, und wann der Druide hat geweissagt aus dem Zucken seiner Glieder oder Eingeweide, soll er verbrannt werden vor dem Bilde Grippos.

48. Was wird aus ihm werden nach seinem Tode?

Er wird verdammt sein in Ewigkeit, sich zu wälzen im Pfuhle des Schlammes und der Flammen, darin hauset der böse Grippo, der Wurm der Hölle, und soll ihm dennoch das Feuer nicht ausglühen den ewigen Pfnüssel, damit er ist behaftet und gestrafet.

49. Was aber wird werden aus den Gläubigen und Frommen nach ihrem Tode?

Sie werden wohnen in Ewigkeit im blauen Gezelte Selinurs und tanzen und singen mit ihren Feen.

Es sei uns erlassen, den Fragen und Antworten weiter zu folgen; die fernere Reihe derselben beschäftigt sich mit den Einzelheiten des Gottesdienstes, deren interessanterer Teil durch unsre Erzählung dem Leser vor Augen geführt wird. Es waren siebzig Kinder und ebensoviel Fragen. Den Schluß machte ein Gebet, das der Druide vorsprach und die Kinder nachsprachen. Hierauf tritt der Druide an den Dolmen und spricht: »Ihr sollt nun, geliebte Kinder, das Zeichen empfangen, daß ihr jetzo gewürdigt seid, einzutreten in die Heilsordnung der großen Mutter Selinur, reif und mündig, zu wandeln durch die Pforten, die sie gesetzet hat, und die da führen zur Läuterung des Leibes und der Seele.« Die Kinder, ihm folgend, stellen sich am Dolmen auf. Jetzt hebt Urhixidur feierlich den Deckel von ihrem Topf, nimmt heraus und reicht dem Priester ein viereckiges Stück feinen Linnens, blau mit weißen Tupfen; in der einen Ecke ist mit gelbem Zwirn das Halbmondzeichen der Selinur eingestickt: eine mühsame Arbeit der Alten, unter Mithilfe einiger geschickter Mütter vollzogen. Der Priester reicht die Gabe dem ersten Kinde und so geht die Handlung der Reihe nach fort, bis das letzte beschenkt ist. Angus zog, als die Verteilung zu Ende war, sein eignes, ebenfalls blaues und weißgetupftes Tuch und gebrauchte es kräftig und feierlich. Die Kinder folgten ihm auch in diesem Akte, doch die Mädchen fast nur scheinbar. Der symbolische Akt dieser ersten Verwendung war eigentlich feststehendes Herkommen, bei den Mädchen hielt man aber nicht eben strenge darauf und sah es gerne, wenn sie das Angebinde nur vergnügt ansahen, kaum zum Näschen führten und dann einschoben. Das Weib war, wir dürfen es nicht verschweigen, von den Pfahlbewohnern nicht eben hoch geachtet; daß es von der Entzündung der Schleimhäute, welche der Glaube dieses Volks in so sonderbare Verbindung mit der Religion brachte, seltener befallen wird, und daß sie bei ihm viel leichter zu verlaufen pflegt, darin sah man eine gewisse Oberflächlichkeit, um deren willen man sich berechtigt glaubte, es als ein niedrigeres Wesen zu betrachten. Nicht daß es unter diesem verwerflichen Fehlschlusse viel gelitten hätte; heimlich im Innern der rauhen Männerbrust fällte das Gefühl ein zarteres Urteil als im Kopfe der dogmatisch beengte und erstarrte Verstand: selbst der Pfahlbürger sah es denn doch natürlich nicht ungern, daß das schöne Geschlecht bei Verkältungen von der Natur milder und schonender behandelt wird als der Mann, selbst er fühlte, daß er für die Gründlichkeit, womit die Natur im starken Geschlechte diesen Prozeß durchzuführen pflegt, denn doch auch sehr der Langmut und Nachsicht jener bedurfte, die sie ihrerseits darin nicht ebenso bedürfen. Und so verweilten denn nicht nur die Mütter, sondern auch die Väter mit wohlgefälligen Blicken auf den anmutigen Mädchen, wie sie der säuberlichen Gabe sich nur als einer Art von neuem Garderobestück erfreuten.

Jedes beschenkte Kind war, die vorige Ordnung einhaltend, auf seine alte Stelle zurückgetreten, der Halbkreis war wieder gebildet, der Druide trat wieder vor und redete die Kinder an: »Und jetzo empfanget mit Andacht an euerm Leibe das heilige Zeichen der Weihe!«

(Vischer: Auch Einer, Kapitel 7)

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