16 Mai 2021

Vischer: Auch Einer (4) - Über den Solipsismus und A.E.

Zu Solipsismus (lateinisch sōlus ‚allein‘ und ipse ‚selbst‘) erläutert die Wikipedia, er sei die philosophische Vorstellung, 

"dass nur das eigene Ich existiert. Häufiger Ausgangspunkt solcher Bedenken ist die Auffassung, dass es unmöglich sei, Gewissheit über eine Realität außerhalb des eigenen Bewusstseins zu erlangen."

A.E. ist freilich kein Solipsist im strengen Sinne. Vischer führt uns aber an seinem Beispiel vor, wie schwer er ist, sich in einen anderen Menschen einzufühlen. 

Schon seine Vorstellung, ein rotbraunes Brillenfutteral verstecke sich am liebsten auf einem rotbraunem Möbel, doch die Vorstellung: "Haupttücke des Objekts ist, an den Rand kriechen und sich da von der Höhe fallen lassen, aus der Hand gleiten, – du vergissest dich kaum einen Augenblick und ratsch –« ", diese Vorstellung können wir nicht ohne weiteres teilen. A.E. führt - da er sich vorstellen kann, dass die Anderen das Objekt zunächst nicht so sehen - die Konstruktion ein, das Objekt sei von Dämonen beseelt, die ihrerseits an Stelle des Objekts handeln und den Menschen, der mit ihnen umgeht, zu quälen versuchen. - Man denke an die Dämonen, die in der Bibel in Menschen fahren und die aus den Menschen ausgetrieben werden müssen, damit sie die sich wieder normal verhalten können. (Teufelsaustreibung war zumindest bis ins 20. Jahrhundert hinein eine als legitim angesehene Aufgabe mancher Kirchenvertreter. So wie sie in der Bibel von Jesus und z.B. von Petrus vorgeführt wird.)

So kann A.E. sich nicht vorstellen, dass ein tragisches Geschehen auf Menschen zurückgeführt werden kann, ohne dass ein tückisches Objekt im Spiel ist. In "Wilhelm Tell", kann die "Tellsplatte" nicht zulassen, dass Tell aus der Gefangenschaft Geßlers entkommt, vielmehr muss es - nach A.E. so dargestellt werden: 

"Die Szene des Tellsprungs dürfte nun keineswegs nur erzählt, müßte dargestellt werden, und mit unsern theatralischen Mitteln wäre das möglich. Also: Tell springt, gleitet aus, fällt ins Wasser. Wird herausgefischt, trotz allem Sträuben in den Kahn gezogen. Geßler ruft mit teuflischem Tone: ›So, jetzt verklabastert ihm den Sitzteil recht tüchtig!‹ Es geschieht, und zwar um so wirksamer, da Tells Hosen bereits durch die Nässe gespannt sind. Erlauben Sie hier eine kleine Abschweifung. Ich trage mich mit der Idee, den antiken Chor in die Tragödie hohen Stils wieder einzuführen, so auch hier. Der Chor spricht bekanntlich allgemeine Betrachtungen aus und könnte zur Verbreitung nützlicher Kenntnisse verschiedener Art benutzt werden. Hier nun, an dieser Stelle, hätte ein am Lande befindlicher Chor von Kunstfreunden aus Geßlers Umgebung – ein Anachronismus, ich gebe es zu, doch ein poetisch erlaubter – einige Sätze über die Bedeutung der sogenannten nassen Gewänder in der Skulptur vorzutragen.« "

Othello kann Desdemona nicht allein aufgrund seiner Eifersucht ermorden, er muss von einer bösen Macht getrieben sein, einem Katarrh, der in ihn hineinfährt und ihn daran hindert, sich menschlich zu verhalten.

Diese Vorstellung entwickelt A.E., weil er seinerseits bei irgendwelchen Reizworten oder -Vorstellungen von einem fürchterlichen Katarrh erfasst wird. So, als eine Reisebekanntschaft, ein dreizehnjähriger Junge ein Beispieldistichon von Schiller vortragen will:

"Er wählte das schöne Distichon auf das Distichon, und begann, unterstützt von der mitskandierenden Lehrerin:

»Im Hexameter steigt des Springquells flüssige Säule –«*

So weit kam er.

Die Geschichte ist eine strenge Wissenschaft. Sie kennt nur die Wahrheit. Die Schicklichkeit wird sie beobachten, so lange es tunlich, ohne ein wesentliches Stück der Wahrheit zu unterdrücken. Würde diese leiden, wenn sie jener sich fügte: sie wird, wenn auch mit Wehmut, unerbittlich ihre Bahn verfolgen. Zarte Gemüter, denen diese Strenge unerträglich: sie sind frei, sie können die ernsten Blätter der Geschichte zuklappen, sie können weiter lesen – nach Belieben. Es hatte mir geschienen, A. E. sei des lästigen Uebels, das ihn auf der Reise befallen, ungewöhnlich schnell los geworden; doch das war Täuschung.

Ein Niesreiz just bei jenen Worten – schnelle Seitenwendung von der schönen Nachbarin ab – Taschentuch – vorsichtige Applikation – trotzdem – der Ueberraschte schien im Drang des Augenblicks versäumt zu haben, eine doppelte Ringmauer von Leinwandfalten um den kleinen Geiser der Nase zu bilden, – wenig half es, daß die um Menschenbegriffe so schuldlos unbekümmerte Natur diesmal mehr zierlich, als gröblich, ja mit einer gewissen fein spielenden Zartheit sich einmischte – die Dame zur Linken zuckt hinter ihrem soeben mit Kapernsauce frisch versehenen Teller zusammen und rückt mit dem Stuhl. Die Freundin zur Rechten bemerkt den Vorgang nicht, wohl aber der Alte, der ein Lächeln unterdrückt, und sehr wohl die zwei Knaben, die ein helles Lachen nicht unterdrücken, und nicht minder der Kellner, ein Subjekt mit einem jener Gesichter, die man als ohrfeigenwürdig bezeichnen möchte; er sprach einen abgeriebenen rheinischen Dialekt und war offenbar nur für die Sommersaison herbeschrieben, A. E. hatte ihm ab und zu einen Blick voll Widerwillen zugeworfen; dieser nahm grinsend den Teller schnell weg und schob einen neuen hin." (Vischer: Auch Einer, Kapitel 3)

*Im Hexameter steigt des Springquells silberne Säule,

    Im Pentameter drauf fällt sie melodisch herab.

Eine Parodie von Matthias Claudius darauf lautet:[5]

Im Hexameter zieht der ästhetische Dudelsack Wind ein;
    Im Pentameter drauf läßt er ihn wieder heraus." (Wikipedia: Distichon)


Man sieht, Vischer wendet einige Mühe auf, uns begreiflich zu machen, wie anders A.E. die Welt erlebt. So sollen wir verstehen lernen, dass er es für so wichtig hält, nicht als ein ungewöhnliches Individuum gesehen zu werden. So wie Behinderte nicht wie ein Monstrum angestaunt werden wollen.
Die Fähigkeit, sich in die Sichtweise anderer einzufühlen, ist in der Pandemie zentral, wo wegen der unterschiedlichen Interessenlagen unsere Gesellschaft auseinander driftet.
Deshalb sind alle Methoden, die Empathie fördern, mindestens ebenso wichtig wie Information und differenzierte rationale Argumentation.*
Z.B. hat in der sonntäglichen Sendung "So gesehen" ein Betroffener erläutert, was es bedeutet, wenn man kein Körpergefühl für die eigenen Bewegungen hat. Selbst nach langem Training muss er seine Extremitäten sehen können, um die richtigen Steuerungsbefehle für die beabsichtigten Bewegungen geben zu können. Im Dunkeln würde er umfallen, weil er zwar merken würde, dass sein Gleichgewicht verloren geht, aber nicht fühlen würde, was er tun müsste, um es wieder herzustellen. 

*Ein Beispiel: Wie soll jemand, der die menschengemachte Klimaerwärmung für noch weit gefährlicher hält als die Pandemie verstehen, weshalb die Regierung die Lufthansa mit Milliarden unterstützt, wo es doch darum geht, das Fliegen schnellstmöglich zu reduzieren.
Ein anderes ist der folgende Tweet:
Auch toll: das Kind das mit Bescheinigung der Eltern in die Schule kommt, dass es negativ getestet ist. Kind erzählt begeistert, dass der Test 2 Striche zeigte. Aber die Eltern “du bist ja gesund”. Kind muss in der Schule nachtesten. Überraschung: wieder positiv


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