02 Mai 2021

Gottfried Keller: Martin Salander 8. Kapitel: Der Vater belauscht die Liebesleute

 »Rate, wo sie hingehen!« sagte Marie zum Manne, als sie ihm die Ankündigung hinterbrachte. »Du errätst es nicht, und doch sind sie oft dort gewesen: in dem großen Garten, der sich hinter dem Hause deines Geschäftslokales erstreckt!«

»Die Wetterhexen! Wie kommen sie hinein? Sie werden mir doch nicht die Haus- und Kontorschlüssel ausführen und die fremden Burschen überall durchlassen?«

»Bewahre! Sie haben den alten rostigen Schlüssel gefunden, der die kleine Hintertüre in der Gartenmauer aufschließt, der Mauer, welche das große Grundstück an der entlegenen Seitenstraße eingrenzt. Die Mädchen gehen zuerst hin, zehn Minuten später machen sich die Zwillinge aus der Probe fort.«

An dem betreffenden Tage hielten sich die Töchter still zu Hause bis am Abend, rollten dann ihre Singstimmen zusammen und begaben sich richtig in die Konzertprobe. Der Vater hatte sie am Mittagtische beobachtet, etwas verlegen, denn es waren ja stattliche Frauenzimmer von guter Haltung und lang nicht mehr Kinder. Er hatte auch nichts Besonderes an ihnen gewahrt, als daß sie dem musikalischen Abend mit einiger Spannung entgegensahen, der schwierigen Aufgabe wegen.

Das Haus, in welchem er seine Geschäftsräume gemietet, war im übrigen zur Zeit unbewohnt, und Salander ging zuweilen mit dem Gedanken um, das alte Wesen zu kaufen und umzubauen, kam aber immer wieder bescheidentlich davon ab. Inzwischen hatte er einen Buchhalter und den Gewerbsknecht darin untergebracht; die hausten aber auf einer anderen Seite, als wo der Garten lag. Salander begab sich am vorgerückten Abend unbemerkt auf sein Kontor, machte bei verschlossenen Läden Licht und verweilte so lange, bis er die Stunde für gekommen hielt. Dann zog er Gummischuhe über die Füße und ging leise über den mondhellen Hof weg bis an das Gittertor des parkartigen Gartens. Vorsichtig guckte er eine Weile durch das krause Eisenzeug, hörte und sah jedoch weder einen Laut noch eine Bewegung von Menschen. Also öffnete er sachte das Gitter und betrat den Garten, der überall mit schlanken hohen Bäumen besetzt war, wie sie jetzt nicht mehr gepflanzt wurden.

Ungefähr in der Mitte stand ein altes, in Sandstein gearbeitetes und verwittertes Brunnenwerk mit Delphinen und Tritonen, von einem spärlichen Wassergeträufel umflüstert. Vor dem Brunnen dehnte sich ein geräumiger Rundplatz, von mächtigen Akazien umstanden, und da die Bäume noch unbelaubt waren, schien der Vollmond ungehindert auf den Platz wie auch auf die Alleewege, die in denselben mündeten. Dicht hinter dem Brunnen stand ein neues Gebüsch von Nadelhölzern. Martin Salander schlüpfte hinein; es verbarg ihn vollkommen. Diesen Platz beschloß er besetzt zu halten, da dem Brunnen gegenüber eine halbrunde Steinbank den zu dieser Jahreszeit einzigen Ruhesitz darbot.

Es war auch Zeit, daß der lauschende Vater seinen Standort eingenommen. In wenig Minuten hörte er ganz nahe gedämpfte, aber rasche Schritte, und die dunklen Gestalten seiner Töchter glitten wie Nachtschatten an dem Brunnen vorüber und umwandelten nebeneinander den runden Platz, ohne ein Wort zu sprechen, zwei- oder dreimal, bis sie plötzlich vor dem Brunnenbecken anhielten. Salander konnte sie nicht erkennen, sie hatten die Schleier tief über die Gesichter und um Hals und Kinn gezogen. Sie streiften die Handschuhe ab, suchten die hohle Hand unter den Delphinen mit Wasser zu füllen und schlürften es begierig in sich hinein. Zwar wehte eine milde Aprilnacht in der Luft, fast wie eine Mainacht so lau, aber doch nicht so warm, den Durst der Jungfrauen zu erklären.

»Himmel, da brennt's, daß sie so löschen!« dachte Martin Salander hinter seinen Koniferen; »natürlich, trägt doch jede ein Elmsfeuer im Herzen!«

Sie schöpften abermals Wasser und kühlten die Stirnen, nachdem sie die Schleier etwas gelüftet.

»Die armen Würmer!« dachte der Vater wiederum, »das ist eine schwierige Geschichte!«

Jetzt erkannte er auch die Jüngere, Nettchen, an der Stimme, als sie nicht laut, aber vernehmlich sagte. »O Setti, ich fürchte, unser Glück hat am längsten gedauert!«

»Warum? Wegen der schlechten Madlene?« erwiderte die ältere Schwester, freilich auch nicht ohne einen unfreiwilligen Seufzer.

»Ach, schilt sie deswegen nicht, sie ist unserer Mutter doch auch etwas schuldig! Und einmal mußte es doch kommen, jetzt ist es da!«

»Nun ist es freilich da oder wird bald kommen, ja! Nun heißt es eben kämpfen und ausharren! Oder sollen wir die liebsten Menschen, dies Wundergeschenk des Himmels, leichten Sinnes fahren lassen und verstoßen?«

»Und kannst du dich so leichten Kaufes im Unfrieden von den besten Eltern trennen? Wenn nur die Mutter die armen Knaben für brav halten könnte! Aber ich weiß, sie tut es nicht und tut es nicht!«

»Sie hat gut sagen, weil sie alle mit unserem Vater vergleicht, der freilich ein Ausbund ist, dem nicht jeder das Wasser reicht! Und doch ist er vielleicht nicht minder ein kleiner Springinsfeld gewesen, so gut wie unsere blonden Schätze, die Goldköpfe! Und sind sie nicht jetzt schon so fleißig wie die Bienen, ehe sie nur die Nahrungssorgen kennen? Ich verlasse mich auf die nie ganz versiegende Güte der Mutter und hauptsächlich aber auf den freieren Sinn des Vaters! Ich habe neulich ein gewiß wahres Wort gelesen, daß nur ein Mann im vollen Sinne des Wortes human sein könne, human in allen Lagen des Lebens! Ich fühle wenigstens, ich als Weib bin es nicht imstande, ich will nichts weitersagen!«

Salander war von solch ungeheuerlichen Reden seiner Ältesten so verwundert und zugleich erschüttert, daß er sich unwillkürlich an einer jungen Tanne festhielt und so ein Geräusch in dem Busche verursachte. Die Schwestern schwiegen mäuschenstill, voll Schrecken in die Finsternis hineinstarrend. Als nichts weiter erfolgte, sagte Setti: »Es ist der Wind oder ein Vogel gewesen, den wir aus dem Schlafe geweckt haben. Wir wollen uns niedersetzen!«

Sie wendeten sich nach der Steinbank, hatten sie aber noch nicht erreicht, als im Hintergrunde die Mauerpforte knarrte. Die Mädchen standen wie gebannt und sahen die Zwillingsherren auf den Fußspitzen die mondhelle Allee einhersäuseln. Auf dem Brunnenplatze angelangt, breiteten sie ohne Säumen die Arme nach den Liebhaberinnen aus, wurden jedoch zurückgewiesen.

»Halt, ihr Herren!« schalt Setti mit verhaltener, aber entschiedener Stimme, »es ist ausgemacht, daß ihr bei solcher Gelegenheit ungleiche Hüte tragen sollt, damit jede Dame ihren Ritter erkennen kann! Nun kommt ihr mit Hüten, die sich so gleich sehen wie zwei Eier! Welcher ist denn nun der Isidor?«

»Und welcher der Julian?« fügte Netti bei.

Beide riefen gleichzeitig: »Ich!« offenbar aus Mutwillen.

»Laßt sehen!« befahl Setti unwillig, »die Ohrläppchen her!« Sie ging auf den einen zu und griff nach seinem rechten Ohre, während Netti das gleiche mit dem linken Ohre des andern tat.

»Aha!« sagte Salander bei sich selbst, »das Eiernudelchen und das Zuckerschneckchen!« und wieder mußte er an sich halten, um sich nicht durch lautes Gelächter zu verraten. »Soll ich diese meine zwei Meisterstücke mit ihren Liebhabern nicht um Geld sehen lassen?«

Inzwischen hatten die Schwestern richtig herausgefunden, was ihnen gehörte, ohne sich von den Schäkern länger hänseln zu lassen. Jeder erhielt einen feierlichen Kuß und sodann auf der halbrunden Bank einen Platz angewiesen neben seiner Liebsten, worauf sogleich die Befehlsworte doppelt zu vernehmen waren: »Nicht umfangen, oder wir gehen!«

Zuerst schien die kleine Versammlung sich paarweise zu unterhalten, weshalb Salander nicht ein Wort verstand. Er sah nur, daß die Töchter aufrecht und bewegungslos saßen, wie Steinbilder, während Isidor und Julian, jeder der Seinigen bescheiden zugeneigt, sich begnügen mußten, die nur mondhellen Gesichter mit den Augen zu liebkosen.

Herr Salander wunderte sich aufs neue über die Mädchen; sie erschienen ihm wie zwei dämonische Verkörperungen einer und derselben Wahnidee, von welcher die Unglücklichen besessen wären. Wenn nun der eine der Zwillinge sterben müßte oder sonst abhanden käme, würden sie dann vielleicht durch die bloße Halbierung geteilt, oder würden sich am Ende beide an den übrigbleibenden Teil hängen, gleich den salomonischen Müttern, und das Gespenst ihrer eingebildeten Leidenschaft sie aufreiben?

Es schauderte ihn bei dem Gedanken, daß solche Seelenstörungen den so blühenden Mädchen beschieden sein könnten. Und immer saßen sie noch da und flüsterten Unvernehmliches mit den Jünglingen, die jetzt aufsprangen, von irgendeinem Worte getroffen.

Setti sprach allein weiter und so laut, daß es der Vater im Busche verstehen konnte: »Ja, ihr schönen Brüder! Es ist geschehen, was uns weh tut! Aus gewissen Reden, die eure Frau Mutter auf offenem Markte hören ließ, müssen wir schließen, daß man uns Schwestern für reiche oder reich werdende Personen hält und somit alle Lieb' und Treue dem vermeintlichen Vermögen unserer Eltern gilt!«

Die Brüder prallten zurück und standen betreten vor den gestrengen Mädchen; denn auch Nettchen wendete sich düster, obgleich mit weicher Stimme, gegen ihren Zwillingsanteil, zwar schon nicht mehr genau wissend, ob es der rechte sei, wegen des vorgegangenen Platzwechsels. Auch die Schwestern waren nämlich aufgestanden und zwischen die verwirrten Zwillinge getreten, die nach Worten suchend hin und herschritten.

»Ja, so ist es, wir sind keine Marktware!« sagte Netti und wischte sich die Augen, mit denselben trotzdem den durch das Hin- und Hergehen der Unterscheidung entschlüpften Julian zu haschen suchend. Das beliebte Greifen nach dem Ohrläppchen war durch den Ernst des Augenblicks unmöglich geworden.

Setti befand sich in gleicher Lage, jedoch mit mehr Geistesgegenwart.

»Sprich du, Isidor, wenn ihr etwas zu sagen habt!« rief sie in leidenschaftlicher Vergessenheit dennoch lauter, als sie wollte. Und sofort sich fassend, ergriff er endlich das Wort.

»Was können wir dafür, wenn unsere gute Mama sich freut, daß ihre Söhne reiche Bräute haben? Ist es eine Sünde für sie? Und wäre es selbst für uns eine Sünde, die Geliebte vor allen Nahrungssorgen gesichert zu wissen? Obgleich wir hoffen und vertrauen, sie aus eigener Kraft dagegen zu schützen! Nein, teure Elisabeth! Ich habe nicht notwendig, dein Erbe zu lieben; aber dich zu lieben habe ich notwendig, das schwöre ich dir! Lasse Geld und Gut, Eltern, Haus und Heimat und alles im Stich und komm mit mir! Auch ich verachte nicht, um der Armut oder um meiner selbst willen einzig und allein geliebt zu werden, auch ich will alle schönen Hoffnungen und was mir von den Eltern zukommen wird, dahinten lassen und mit dir bis ans Ende der Welt gehen!«

Er hatte sich während dieser Worte dem älteren Fräulein Salander zu Füßen geworfen, was bisher unter den vier Leuten noch nie vorgekommen und auch sonst gerade nicht landesüblich war. Das gleiche tat Julian und hielt eine noch feurigere Rede an Netti, in welcher er aber nicht arm, sondern reich werden zu wollen versprach, um zu beweisen, daß er nicht auf den Reichtum der Braut zu schauen brauche.

Sie hielten die Hände der Schwestern fest umklammert und bedeckten sie, durch die eigenen Worte zu Tränen gerührt, mit Küssen. Da nun jede wieder ihren Anteil sicher an der Hand fühlte und noch größere Rührung empfand, so endete der prüfungsvolle Augenblick damit, daß die Jünglinge sich emporschwangen und die schmucken Mädchen ohne Widerstand umarmten, und dies unter so heftigem Küssewechsel, wie es auch noch nie geschehen. Man sah dabei, daß die Jünglinge kräftig genug in die Höhe geschossen waren, um die auch nicht kurzen Frauengestalten zu überragen.

Das bemerkte auch Martin Salander, der unversehens zwischen den zwei Paaren stand und vielleicht noch lange hätte stehen können. Allein er legte links und rechts eine Hand auf die entsprechende Zwillingsschulter und sagte: »Laßt's für heute genug sein, ihr jungen Herren! Und ihr artigen Frauenzimmer seid so gut, euch von ihnen zu trennen! Hier steht der Vater, wie es scheint für euch eine überflüssige Person!«

Die vier Liebesleute fuhren weit auseinander, Setti und Netti mit Schreckenslauten, Isidor und Julian aber sich bald ermannend.

»Herr Salander, es geht alles mit rechten Dingen zu, wir sind mit Ihren Fräulein Töchtern verlobt!«

(Gottfried Keller:  Martin Salander, 8. Kapitel)


Wenn ich es immer für allzu unwahrscheinlich fand, dass Old Shatterhand und Winnetou beim Beschleichen von Indianern oder Tramps immer genau das hören, was sie und der Leser über den weiteren Fortgang der Handlung wissen wollen, muss ich zugestehen, dass es bei Keller genauso läuft. Und zwar erzählen sich die Töchter Salander das, was sie auf dem Weg hätten sagen können, genau dann, wenn der Vater sie gut hören kann, und sie besprechen auch genau das, was der Vater wissen muss, um die folgende Liebesszene zu verstehen.

Freilich, so gern Karl May mit dem Auftreten von Zwillingsfiguren arbeitet und so sehr er sich bemüht, humorvolle Beschreibungen zu liefern: Dass Mädchen ihre Liebespartner nur an den Ohrläppchen unterscheiden können, ist denn doch ein skurriler Humor, den Keller Karl May voraus hat.

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