»Warum lacht ihr Kinder so darüber, daß der Knabe eine Mutter hat? Habt ihr denn keine Mutter?«
»Nein! Wir sagen Mama!« erklärte der eine Rädelsführer der Kleinen, und gleichzeitig nahm er einen Tonscherben von dem Boden, schöpfte Wasser aus dem Brunnenbecken und schleuderte es auf den Inhaber einer Mutter. Der verlor aber die Geduld. Er sprang herbei, um den bösen Zwilling ein weniges zu zausen, worauf beide Brüder zu zetern und »Mama! Mama!« zu schreien begannen.
»Isidor! Julian! Was gibt's denn, was habt ihr wieder?« ließ sich eine Stimme vernehmen, und aus einem der Häuser kam eine rüstige Frau, unzweifelhaft vom Waschzuber weg. Die feuchte Schürze war zurückgeschlagen, auf der einen Faust hielt sie einen modisch mit Blumen und Seide aufgeputzten Strohhut vor sich hin, während sie mit dem andern rotbraunen Arm den Schweiß von der Stirn zu wischen suchte und der ihr folgenden Putzmacherin schmälend zurief, der Hut sei nicht geraten, die Blumen stellten nichts Rechtes vor, sie wolle ebenso schöne und große, wie andere Frauenzimmer, und weiße Bänder statt der braunen. [...] Dann sah sie endlich nach ihren Buben Julian und Isidor, welche zu schreien nicht aufhörten, obgleich der fremde Knabe sich an seinen Standort zurückgezogen hatte.
»Was ist denn mit euch? Wer tut euch was?« rief sie, worauf jene schrien: »Der dort will uns hauen!«
Nun aber mischte sich der stets aufmerksame Wandersmann in den Handel und belehrte die Frau, die beiden Jungen hätten den andern zuerst mit Wasser begossen und ihn ausgelacht, weil er nur eine Mutter und keine Mama besitze.
»Das ist nicht schön von euch!« sagte die Frau mit milder Zurechtweisung zu ihren Sprößlingen; »er ist nicht schuld, wenn er arme oder ungebildete Eltern hat, und ihr könnt Gott danken, daß es euch besser geht!«
Der mit der Reisetasche konnte sich nicht enthalten, zu fragen, ob es denn hierzulande ein Zeichen von Armut oder Verwahrlosung sei, wenn unter dem Volke die Eltern noch Vater und Mutter genannt werden, und er tat diese Frage mit anständiger Wißbegier, ohne Spott, gewärtig, schon wieder etwas Neues, vielleicht Günstiges und Rühmliches zu erfahren. Die Frau aber sah ihn groß an, besann sich ein wenig, bis sie zu erkennen glaubte, daß es sich um einen unvorgesehenen unbefugten Angriff handle, und erwiderte alsdann mit geschärfter Betonung: »Wir sind hier nicht Volk, wir sind Leute, die alle das gleiche Recht haben, emporzukommen! Und alle sind gleich vornehm! Und für meine Kinder bin ich die Mama, damit sie sich nicht vor dem Herrenvolk zu schämen brauchen und einst aufrechten Hauptes durch die Welt gehen dürfen! Jede rechte Mutter hat die Pflicht, dafür zu sorgen, weil es Zeit ist!«
»Was machst du denn für einen Lärm, Frau?« sagte der hinzugekommene Mann derselben; er setzte einen großen Korb voll gelber Rübchen neben den Brunnen nieder, indem er beifügte: »Da ist Gemüse zu waschen! Ich will gleich das Beet umgraben und wieder ansäen; die Buben können das Zeug abspülen! Damit sie das Wasser im Trog nicht verunreinigen, gib ihnen einen Zuber, Frau, und achte doch darauf, daß dem Vieh das Trinkwasser nicht immer getrübt wird von den Kindern!«
Hierdurch schien die wackere Frau, in Gegenwart des Fremden, noch gereizter zu werden. Die Knaben seien jetzt ordentlich angezogen und sollen sich nicht schon wieder versauen! Sie wolle die Rübchen nachher schon abspülen, wozu noch alle Zeit sei, denn sie würden erst am nächsten Morgen geholt.
Und die Zwillinge riefen ihrerseits: »Vater, die Mama sagt, wir dürfen uns nicht versauen! Was sollen wir nun tun? Können wir laufen, wo wir wollen?«
Ohne die Antwort abzuwarten, sprangen sie mit den anderen Kindern davon; der Fremde aber, statt ihrem Beispiel zu folgen, blieb immer noch stehen, in Nachdenken verloren über die neue Tatsache, daß der Mann der Mama doch ein einfacher Vater sei vor seinen Kindern, dabei auch freilich nicht soviel zu gelten schien, wie jene.
In diesen Gedanken unterbrach ihn der Landwirt oder Gemüsegärtner und fragte: »Und was ist's mit dem Herrn hier, was wünscht er?«
»Er wird wohl nichts zu wünschen haben!« rief die Frau dazwischen; »er hat uns bloß Volk genannt und sich verwundert, wieso die Buben mir Mama rufen sollen!«
»Das war nicht so gemeint!« sagte der Fremde lächelnd, »ich habe mich ja im Gegenteil über die Verfeinerung der Sitte hierzulande gefreut, über die zunehmende Gleichheit der Bürger; gewahre nun aber doch, daß das Familienhaupt noch Vater genannt wird und nicht Papa! Wie darf ich mir nun das wieder erklären?«
Die Frau blickte ärgerlich auf ihren Mann, der ihr in diesem Punkte genugsam Verdruß gemacht haben mochte, und verhielt sich im übrigen still. Der Mann seinerseits betrachtete den Fremdling nun ebenfalls mit prüfendem Blicke, wie vorhin die Frau, und als er dessen offenes und gutmütiges Gesicht wahrnahm, ließ er sich zu einer vertraulichen Rede herbei: »Seht, guter Freund! Das ist eine Sache, wovon manches zu berichten wäre! Die Gleichheit ist allerdings vorhanden und alle streben wir aufwärts. Am einigsten sind die Weiber dahinter her; eine nach der andern nimmt jenen Titel an, wogegen wir Mannsleute bei unserer Hantierung dergleichen Zierat nicht brauchen können. Wir würden uns selbst auslachen, wenigstens einstweilen noch, und dann, was die Hauptsache ist, so würde man uns die Steuern hinaufschrauben, wenn wir den Papatitel annähmen. So hat der Herr Pfarrer in der Schulpflege zu verstehen gegeben, wo die Sache zur Sprache kam, weil ein Schulmeister einen Teil der Schüler mit Papa und Mama traktierte, wenn er von ihren Eltern zu sprechen hatte. Es waren dies natürlich solche Kinder, die schöne Geschenke brachten. Bei den Frauen, sagte der Pfarrer, habe das nicht soviel zu bedeuten, weil ihre Eitelkeit bekannt sei; wenn aber die Mannsbilder sich Papa rufen ließen, so urkundeten sie hiermit, daß sie sich zu den Wohlhabenden und Fürnehmen rechnen, und da sie ohnehin zu wenig versteuern, so würde man sie bald höher einzuschätzen wissen. Es wurde dann auch sofort allen sechs Lehrern strengstens befohlen, in der Schule von Gleichheits wegen das Wort Papa zu vermeiden und bei reich und arm nur Vater zu sagen!«
(Gottfried Keller: Martin Salander, 1. Kapitel)
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