31 Mai 2021

Jean Paul: Selberlebensbeschreibung (3)

 An Jean Pauls Autobiographie ist schon der Titel ganz neu und originell, nämlich eine Wortschöpfung Jean Pauls: Selberlebensbeschreibung.

Hier der Anfang:

Erste Vorlesung

Wonsiedel – Geburt – Großvater
 

Geneigteste Freunde und Freundinnen!

Es war im Jahr 1763, wo der Hubertsburger Friede zur Welt kam und gegenwärtiger Professor der Geschichte von sich; [...] am 21ten März; – und zwar in der frühesten frischesten Tagzeit, nämlich am Morgen um 1½ Uhr; was aber alles krönt, war, daß der Anfang seines Lebens zugleich der des damaligen Lenzes war.

Den letzten Einfall, daß ich und der Frühling zugleich angefangen, hab' ich in Gesprächen wohl schon hundert Male vorgebracht; aber ich brenn' ihn hier absichtlich wie einen Ehrenkanonenschuß zum 101ten Male ab, [...]

Die Auslassungen sind hier bezeichnet, um die Neugier zu wecken, was für Einschübe (hier findet man sie) seinem ohnehin schon nicht wortkargen Text noch hinzufügt. 

[...] Aber jetzo mag der Held und Gegenstand dieser historischen Vorlesungen unbesehen in der Wiege und an der Mutterbrust so lange liegen und schlafen – da doch dem langen Morgenschlaf des Lebens nichts für allgemein-welthistorisches Interesse abzuhören ist – so lange, sag' ich, bis ich von denen gesprochen, wenn auch nicht viel und genug, nach welchen mein Herz sich und die Feder hindrängt, von meinen Vorverwandten, von Vater, Mutter und Großeltern.

Mein Vater war der Sohn des Rektors Johann Richter in Nettstadt am Kulm. Man weiß nichts von diesem als daß er im höchsten Grade arm und fromm war. [...]

Mein Vater, in Neustadt 1727 den 16ten Dezember geboren [...] Darauf bezog er das Gymnasium poeticum in Regensburg, um nicht nur in einer größern Stadt zu hungern, sondern auch darin statt des Laubes die eigentliche Blüte seines Wesens zu treiben. Und diese war die Tonkunst. [...] Klavier und Generalbaß erhoben ihn zwei Jahrzehende später zu einem geliebten Kirchenkomponisten des Fürstentums Baireuth. [...] Darauf studierte er statt der Tonkunst in Jena und Erlangen Theologie, vielleicht bloß um in Baireuth, wo sein Sohn alle diese Nachrichten sammelt, als Hauslehrer eine Zeit lange, d. h. bis in sein 32tes Jahr, sich abzuplagen. Denn schon 1760 rang er dem Staate den Posten eines Organisten und Tertius in Wonsiedel ab; und machte sonach unter dem Baireuther Markgrafen mehr und früheres Glück als jener Kandidat in Hannover, wovon ich gelesen, welcher 70 Jahre alt wurde und doch keine andere Stelle in der Kirche bekam als eine darneben im Kirchhofe. [...] 

In meinen historischen Vorlesungen wird zwar das Hungern immer stärker vorkommen – bei dem Helden steigts sehr – und wohl so oft als das Schmausen in Thümmels Reisen und das Teetrinken in Richardsons Clarisse; aber ich kann doch nicht umhin, zur Armut zu sagen: sei willkommen, sobald du nur nicht in gar zu späten Jahren kommst. Reichtum lastet mehr das Talent als Armut und unter Goldbergen und Thronen liegt vielleicht mancher geistige Riese erdrückt begraben. Wenn in die Flammen der Jugend und vollends der heißen Kräfte zugleich noch das Öl des Reichtums gegossen wird: so wird wenig mehr als Asche vom Phönix übrig bleiben; und nur ein Goethe hatte die Kraft, sogar an der Sonne des Glücks seine Phönixflügel nicht kürzer zu versengen. Der arme historische Professor hier möchte um vieles Geld nicht in der Jugend viel Geld gehabt haben. Das Schicksal macht es mit Dichtern wie wir mit Vögeln und verhängt dem Sänger so lange den Bauer finster, bis er endlich die vorgespielten Töne behalten, die er singen soll. [...]

Nur einen einzigen Fehlentschluß meines Vaters könnte man vielleicht auf die Rechnung der Dürftigkeit setzen, daß er nämlich anstatt sein ganzes musikalisches Herz der Tonmuse zu geloben, wie ein Mönch sich dem Predigtamte hingab und daß er sein Ton-Genie in eine Dorfkirche begraben ließ. [...]

Ich bin zu meiner Freude imstande, aus meinem zwölf-, wenigstens vierzehnmonatlichen Alter eine bleiche kleine Erinnerung, gleichsam das erste geistige Schneeglöckchen aus dem dunkeln Erdboden der Kindheit noch aufzuheben. Ich erinnere mich nämlich noch, daß ein armer Schüler mich sehr liebgehabt und ich ihn und daß er mich immer auf den Armen – was angenehmer ist als oft später auf den Händen – getragen und daß er mir in einer großen schwarzen Stube der Alumnen Milch zu essen gegeben. Sein fernes nachdunkelndes Bild und sein Lieben schwebte mir über spätere Jahre herein; leider weiß ich seinen Namen längst nicht mehr; aber da es doch möglich wäre, daß er noch lebte hoch in den Sechzigern und als vielseitiger Gelehrter diese Vorlesungen in Druck vorbekäme und sich dann eines kleinen Professors erinnerte, den er getragen und geküßt – – ach Gott, wenn dies wäre und er schriebe oder der ältere Mann zum alten käme! – Dieses Morgensternchen frühester Erinnerung stand in den Knabenjahren noch ziemlich hell in seinem niedrigen Himmel, erblaßte aber immer mehr, je höher das Taglicht des Lebens stieg; – und eigentlich erinnere ich mich nur dies klar, daß ich mich früher von allem heller erinnert. –

Da mein Vater schon im Jahre 1765 als Pfarrer nach Joditz berufen worden: so kann ich mein Wonsiedler Kindheitreliquiarium desto reiner von den ersten frühen Joditzer Reliquien und Erinnerungen abscheiden. [...]

(Jean Paul: Selberlebensbeschreibung 1. Vorlesung)


Als ich vor neun Jahren das erste Mal Jean Pauls Autobiographie vorgestellt habe, habe ich weit weniger von seinem Text geboten und nicht die Auslassungen, sondern meine Fundstücke hervorgehoben. Wem dieser Text zu ausführlich erscheint, der wechsle jetzt zum früheren.

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