01 Mai 2021

Gottfried Keller: Martin Salander 4. Kapitel

 "Nach siebenjähriger Abwesenheit kommt der ehemalige Lehrer und jetzige Kaufmann Martin Salander von Brasilien nach Münsterburg, einer Schweizer Stadt, zurück. Überall trifft er auf Anzeichen wirtschaftlicher Prosperität: ein neues Bahnhofsgebäude und neue Strassenanlagen machen, dass er sich nur mit Mühe in der ihm sonst vertrauten Stadt orientieren kann. Noch bevor er seine Frau und seine Kinder aufsucht, erfährt er, dass fast sein gesamtes in Brasilien erworbenes Vermögen dem wenig vertrauenswürdigen Geschäftsmann Louis Wohlwend in die Hände gefallen ist und vermutlich in einem bevorstehenden Konkurs verlorengehen wird. Salander war mit Wohlwend befreundet, seit beide das Lehrerseminar besucht hatten. Eine Bürgschaft, die Salander früher für Wohlwend geleistet hatte und wegen der er seine damalige Firma verloren hatte, war schon der Grund gewesen, dass Salander in Übersee ein neues Vermögen erarbeiten musste. In der Zwischenzeit hatte seine Frau Marie sich und die drei Kinder Setti, Netti und Arnold mit einer Gastwirtschaft über Wasser gehalten. Das gelang je länger desto schlechter, da die Bäume, unter denen der Gastgarten lag, einer nach dem andern dem allgemeinen Bauboom zum Opfer gefallen waren und die Gäste nach und nach ausblieben." (Wikipedia)

Während Salander erfährt, dass der Wechsel über seine Ersparnisse in siebenjähriger Arbeit nichts wert ist, weil das Bankhaus, auf das er ausgestellt ist Pleite gemacht hat unter Geschäftsführung eben des Wohlwend, der schon damals für den Verlust seines Vermögens verantwortlich war, hat seine Frau Schulden gemacht, um den Gastbetrieb noch bis zu dem Tag aufrechterhalten zu können, wo ihr Mann nach Hause kommt. Sie und ihre Kinder haben den ganzen Tag gehungert und freuen sich, dass sie sich am Abend  satt essen können, weil Martin Salander sie in eine Gastwirtschaft ausführt. In Gegenwart der Kinder und schon am ersten Abend will er seiner Frau noch nicht sagen, dass sein Erspartes schon wieder verloren gegangen ist.

"Salander hatte nach allen Bewegungen und Erregungen des vergangenen Tages endlich dem Schlafe nicht widerstanden. Doch mit dem ersten Frühscheine, der am Himmel heraufkam, weckte ihn die schwere Sorge, die keineswegs eingeschlafen war. Er sah seine Gattin, die im tiefsten Frieden lag und schlief, jeder Zug ihres Gesichtes in seiner Ruhe und Zufriedenheit der Herold einer wohlgeborgenen Seele. Und diesen Frieden sollte er mit einem Worte von Grund aus zerstören; die Stunde war unwiderruflich da.

Das neue Unglück schien ihm erst jetzt wirklich geboren, und er bereute bitter, daß er gestern nicht stehenden Fußes wieder geflohen oder mit der bösen Nachricht gleich ins Haus gefallen war.

Als er, von dem alten guten Bekannten geführt, das Haus Schadenmüller & Komp. gefunden, hatte er bemerkt, daß an diesem Hause wirklich Arnold von Winkelried mit den Speeren im Arm auf Goldgrund gemalt, prangte, nebst einer Inschrift: »Sorget für mein Weib und meine Kinder!« Das Haus gehörte dem Herrn Louis Wohlwend, der auch das Bild malen ließ, aber nicht bezahlte, wie sich später zeigte.

Salander hatte seinen Begleiter mit Dank verabschiedet, weil er doch lieber allein vor seinen alten und mutmaßlich neuen Schuldner treten wollte. Er stieg die Treppe hinan und stieß gleich im ersten Stockwerk abermals auf ein Schild mit »Schadenmüller & Komp.«, dabei aber auch eine Visitenkarte mit »Louis Wohlwend«. Er zog die Klingel an, es schlürfte jemand in schlechten Pantoffeln herbei, und als die Türe aufging, stand ein schäbiger, unreif aussehender junger Mensch vor ihm, einen Gummipinsel in der Hand, und fragte, zu wem er wolle.

»Ist der Herr des Geschäftes hier?« fragte Salander entgegen.

»Das Geschäft ist zurzeit geschlossen, Herr Wohlwend ist da, wie ich glaube; wen soll ich anmelden, wenn er zu sprechen ist?« erwiderte mißtrauisch der junge Mann.

»Führt mich nur gleich hinein, wo er ist, er wird mich schon kennen!« sagte Salander etwas barsch, indem er den Menschen drehte und vor sich herschob.

Er ging ihm in eine leere Kontorstube voran, bat ihn, da zu warten und begab sich in das Kabinett des Herrn Wohlwend. Salander sah sich inzwischen etwas um und gewahrte, daß man hier beschäftigt war, Abzüge eines unordentlich autographierten Zirkulars zu falten, in Umschläge zu stecken und mit Gummi zu verkleben. Es dauerte einige Minuten, bis der junge Mensch zurückkam und ihn ersuchte, in das Kabinett zu treten. Salander klopfte zweimal, bis jemand »Herein!« rief. Als er eintrat, sah er an einem breiten Schreibtisch von Mahagoni, in einen großblumigen Schlafrock gekleidet, einen Mann sitzen, der ihm den Rücken zuwandte und eifrig zu schreiben schien, ohne sich aufzurichten.

»Herr Wohlwend?« sagte Salander, um sich bemerklich zu machen.

»Stehe gleich zu Diensten«, sagte jener, immer fortschreibend, schaute dann aber einen Augenblick auf, kehrte sich wie der Blitz wieder ab, drehte sich abermals um und warf dem Fremden einen stechenden Blick zu, wie man es einem Todfeinde gegenüber tut und auch dann nur, wenn man selbst bös ist. Doch ebenso schnell nahm er sich zusammen, erhob sich, ging einen Schritt vorwärts und stellte sich, als ob er erst jetzt nach und nach seinen Besucher erkennen würde.

»Irre ich nicht? Ist das nicht der Martin Salander?« Martin mußte sich den Mann im Schlafrock auch erst ein wenig betrachten, um ihn zu erkennen, obschon in dessen Aussehen, außer einer ganz leisen Verwitterung, fast keine Änderung eingetreten war, als daß er in dem früher glatten Gesicht einen Schnurrbart hatte stehen lassen, der sich nicht am Platze fühlte und mit seinen Härchen sich nach allen Seiten sperrte und um sich stach. Durch diesen einzelnen Gegenstand aber erschien das Gesicht urplötzlich ungeheuer leer, unwirtlich und trostlos für den, welchem der Schnurrbart neu war.

»Jawohl bin ich's!« sagte Salander.

»Ei der Tausend, so sei willkommen«, sagte der andere, die Hand hinhaltend und den unwillkommenen Ankömmling prüfend anblinzelnd, eher wie ein kritischer Gläubiger als wie ein böser Schuldner; »es ist lange her, seit wir uns zuletzt gesehen haben. Und was führt dich für ein guter Stern her?«

»Dies!« erklärte Salander kurz, von der tollen Manier beleidigt. Er hielt ihm die aus der Brieftasche gezogene Anweisung hin.

Wohlwend empfing sie mit zwei Fingern, wie einen Krebs, zog die Augenbrauen in die Höhe und las den Zettel.

»Ah!« sagte er, »die Atlantische Uferbank in Rio. In der Tat, wir stehen mit derselben im Verkehr!«

»Ist es etwa nicht angezeigt worden?«

»In der Tat, ich erinnere mich an etwas dergleichen, habe aber nicht beachtet, wen es betrifft. Unsere Geschäfte haben sich leider durch zu raschen Aufschwung so sehr ausgedehnt, daß ich den Überblick momentan nicht zur Verfügung habe. Die Bank hat ein bedeutendes Guthaben bei uns; indessen, wir stehen in Gegenrechnung, und ich müßte nachschlagen. Sapperment! Hundertsechzigtausend Franken! Du machst ja große Geschäfte, Freund!«

»Es ist so ziemlich, was ich in sieben Jahren aufgebracht habe! Aber es wäre mir lieb, wenn du nachschlagen wolltest!«

»Das kann ich augenblicklich nicht, guter Martin! Du mußt wissen, daß wir uns in einer unversehens hereingebrochenen Krise befinden, welche hoffentlich vorübergehend ist!«

»Wer sind denn die Wir?«

»Nun, die Firma und ich, deren Inhaber! Früher war ein gewisser Schadenmüller dabei. Kurz, die Bücher liegen auf der Kanzlei, und da begreifst du, daß ich jetzt nicht nachschlagen kann!«

»So schreibe wenigstens auf das Papier, daß es von dir eingesehen wurde!«

»Nichts schreibe ich darauf, bis ich orientiert bin!«

Dieses Benehmen brachte Salander etwas auf, so sehr er an sich hielt.

»Es ist jetzt das zweimal, daß du so zu mir stehst, und du scheinst dir nichts daraus zu machen, mich womöglich auch diesmal um alles zu bringen!« sprach er mit strengerem Blick. Allein Wohlwend ließ sich nicht beirren.

»Bitte, nicht schimpfen!« sagte er mit gehobener Stimme, »noch bin ich nicht fallit! Und nie gewesen! Und wenn ich es wäre, so stehe ich in der Hut der Gesetze und des Rechtes und ist überall mein Haus meine Burg!«

Salander fiel voll Erstaunen und wie erschöpft auf einen mit Plüsch bezogenen Armsessel, der mit kopfgroßen Rosen bedruckt war. Wohlwend setzte seine Rede mit begütigter Stimme fort: »Lieber alter Freund! Mach es wie ich, behalte den Kopf oben! Sieh her, in meiner unfreiwilligen Muße bin ich nicht müßig, grüble nicht über Unabwendbares; ich werfe mich auf Wissenschaft und Kunst. Hier treibe ich Heraldik, mit Einbeziehung der bäuerlichen Hauszeichen, der Handwerksinsignien und verwandter Dinge!« Ein paar abgegriffene Wappenbücher, wie sie die Petschaftstecher und Löffelgraveure an den Messen und Jahrmärkten vor sich aufgeschlagen halten, lagen auf dem Schreibtische, dabei eine Farbenschachtel, wie die Knaben sie brauchen, wenn sie Bilderbogen illuminieren, und einige Papierblätter mit ganz kindisch nachgemalten Wappenbildern. Auch eine verworrene Skriptur machte sich breit.

»Hier lassen sich alte Fäden politischer und kultureller Entwicklung offen legen und neue anknüpfen im Sinne einer neuen Verteilung der Volksehren –«

Martin Salander hörte nicht länger auf die nachfolgenden Reden des Mannes; er griff nur noch mechanisch nach einem schmierigen aufgeschlagenen, aber auf dem Bauche liegenden Buche, mitten auf dem Tische des Kaufherrn und Mäzen. Es war ein uralter Räuberroman mit dem Zeichen einer Leihbibliothek, offenbar die eigentliche Lektüre des Possenreißers in seiner unfreiwilligen Muße.

Er nahm seine brasilianische Anweisung dem guten Freunde aus der Hand, steckte sie sorgfältig ein, unterbrach die Rede und fragte nur noch: »Bist du verheiratet, Louis Wohlwend?«

»Wieso fragst du das? Nein!« erwiderte dieser.

»Ich meinte nur wegen des schönen Winkelriedspruches, der an dein Haus gemalt ist! Du bist wohl im allgemeinen ein Beschützer der Witwen und Waisen oder solcher, die es werden könnten?«

»Du weißt, daß ich von jeher einem idealen Zuge nachgehangen bin, und die Wohnhäuser freier Bürger mit edlen Sinnsprüchen historischen oder moralischen Gehaltes zu schmücken und dazu Anregung zu geben, dünkt mich lobenswert!«

Nach diesem Spruche Wohlwends setzte Salander seinen Hut mitten in der Stube auf den Kopf und verließ ohne ein weiteres Wort das Haus.

Er rief eine Droschke herbei und ließ sich nach der städtischen Notariatskanzlei fahren. Der Notar las die Anweisung, die ihm Salander nach Mitteilung der Umstände vorlegte, rückte die Brille zurück und sagte: »Sind Sie selbst der Herr Martin Salander? Ja? – Es ist eben eine böse Sache! Morgen erscheint die amtliche Publikation der Konkurseröffnung mit den üblichen Fristen, soweit haben Sie noch alle Zeit. Ich will auch heute selbst noch hingehen und den Mann amtlich einvernehmen bezüglich Ihrer Forderung.«

»Das Dringendste,« warf Salander ein, »scheint mir zu sein, daß schleunigst die Verwahrung an die Bank in Rio abgeht! Ich bin bereit, die Kosten der nötigen Kabeldepeschen zu hinterlegen!«

»Das ist leider Gottes nicht mehr das Nächst für Sie, Herr Salander!« erwiderte der Notar mit ernster Teilnahme, »vorgestern lief die sichere Nachricht ein, die Atlantische Uferbank in Rio de Janeiro zahle nicht mehr, gestern kam der Nachtrag, die Direktoren seien verschwunden und die Angestellten auseinander gelaufen. Hiesige Häuser haben schon vor zwei Wochen schlimme Berichte erhalten, und was das Schlimmste ist, man hält bereits die aufgeflogene Bank und was drum und dran hängt für ein ausgebreitetes Raubgeschäft. Ich fürchte, viele anvertraute Gelder sind ins Wasser gefallen, wo es am tiefsten ist.«

Salander mußte sich am Pulte des fleißigen Mannas halten und sagte nichts.

Der Notar sah nach der Uhr.

»Ich werde mit Ihnen zum Gerichtspräsidenten gehen, es ist gerade noch Zeit; denn es ist für alle Fälle nötig, daß Sie eine gerichtliche Beschlagnahme des Guthabens der Bank auswirken, welches die Anweisung angeblich decken soll.«

»Ich habe unten eine Droschke stehen«, sagte Salander. Sie fuhren hin und erhielten die gewünschte Verfügung, welche freilich kaum einen greifbaren Wert vorfand.

Solch ein trauriger Bericht wartete auf Marie Salanders Erwachen, und als das wachsende Frührot am wolkenlosen Himmel ihr schlummerndes Gesicht wie ein glückseliger Traum zu beleben schien, verschob der Mann abermals das Gericht seines Leichtsinns, dessen er sich nun beschuldigte, bis die Kinder zum Einkauf der Lebensmittel ausgesandt worden, dann wieder, bis das Frühmahl eingenommen wäre. Er wollte nicht, daß die Frau am ersten Morgen der Wiedervereinigung in Tränen am Herde stehen sollte." (Gottfried Keller: Martin Salander, 4. Kapitel)

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