01 Mai 2021

Gottfried Keller: Martin Salander (6. Kapitel)

 "Die Zeit floß ruhig über die Schicksale hin oder sie trug sie vielmehr unvermerkt, und so saß auch nach drei Jahren Frau Marie wirklich in ihrem Schreibstübchen und verzeichnete im Buch eine Anzahl Kaffeesäcke, welche der Fuhrmann abgeladen und ein rüstiger Arbeitsmann in das Magazin trug, worauf er wieder an das Verpacken von Zigarren ging; es war eine beliebte neue Sorte, die Martin Salander von den Kolonien sandte und zum Teil selber pflanzen ließ, da er eigens dazu Land gekauft hatte. Auch eine Dienstmagd erschien, die Frau wegen des Abendessens zu befragen; sie erhielt die Weisung, man wolle einmal von dem Paraguay-Tee kosten, welchen Herr Salander versuchsweise geschickt habe, ob er wohl Abnehmer finde. Hierauf brachte ein Landkrämer das Geld für einen Sack Kaffee und bestellte einen neuen, während ein Herr kam, der sich ein Probekistchen von den Zigarren ausbat, von denen er gehört.

Der Postfaktor kam, eine Mandatsumme auszuzahlen, und endlich kehrten die Mädchen aus der Sekundarschule, die sie besuchten, nach Hause, und das ältere, Setti, wurde sofort mit den eingegangenen Geldern auf die Bank geschickt, wo das kleine Handelshaus im Kontokorrentverkehr stand. Dieses gleiche Mädchen, das seinem sechzehnten Jahre entgegenging, erhob bereits den Anspruch, auf nächste Ostern bei der Mutter als »Buchhalterin« einzutreten. Der Rechnungslehrer hatte gesagt, sie addiere wie ein Maikäfer."

[...]

Es zog jemand die Klingel, eines der Mädchen lief und brachte ein Telegramm herein, das von Basel kam und von Martin Salander aufgegeben war: »Bin im Lande. Komme mit letztem Zuge nach Münsterburg. Holt mich nicht ab, weil mit Gepäck zu tun habe und Wagen nehme.« [...]


[Über Marie Salander:] Sie achtete und liebte sogar den bürgerlichen Freisinn ihres Mannes und seine Neigung, für das Ganze und Kommende zu leben, worin er durch den Louis Wohlwend jetzt schon bis ins zehnte Jahr in so merkwürdiger Art aufgehalten worden. Allein sie beanspruchte keinen Weitblick über Zusammenhang und Zukunft, sondern begnügte sich, für den Tag und Augenblick bereit zu sein.

Jetzt holte sie jenen [drei Wochen alten] Brief hervor, um nachzusehen, ob sie nicht doch eine Stelle übersehen, die eine nahe bevorstehende Ankunft verhieß, und auch um auf seine Worte so gut als möglich eingehen zu können, wenn er darauf zurückkam.

»Wenn Du«, schrieb er, »erfreut bist, daß wir so leidlich bald wieder auf einen guten Weg gekommen sind, so mußt Du das nicht meiner besonderen Geschicklichkeit und Tatkraft zuschreiben, sondern dem freundlichen Glücke, welches mir zur Seite ging. Allerdings habe ich auch einigen Fleiß aufgewendet, wie es der Mensch etwa tut, wenn er sich ein Ziel sichtbar winken sieht. Die Dinge, welche bei Euch zu Hause sich vollzogen haben, diese neue Verfassung, welche unsere Republiken sich gegeben haben, diese unbedingten Rechte, die das Volk ruhig, ohne irgendeine Störung sich genommen hat, alles das möchte ich in seinen glorreichen Anfängen noch sehen und mit genießen, alles ruft mir zu: komm! wo bleibst du? Und nun kann ich als unabhängiger Mann kommen, der seinen Boden hat und nichts zu suchen braucht als die Gelegenheit, zu helfen und zu nützen! Und welch ein großer Augenblick ist es, in welchem unsere alte Freiheit den großen Schritt tut! Ringsum uns hat sich in den großen geeinten Nationen die Welt wie mit vier eisernen Wänden geschlossen; zugleich aber hat sich mit dem moralischen Schritt, den wir getan, eine tiefste Quelle neuen Freiheitsmutes und Lebensernstes geöffnet, welche das Äußerste ertragen und das Härteste überdauern läßt und am Ende die Welt überwindet, wäre es auch im Untergang! Ein solches Gefühl der Selbstbestimmung, der Furchtlosigkeit und der Pflichtliebe schützt stärker als Repetiergewehre und Felswände« und so weiter.

Da stand freilich nichts von einer schon beschlossenen Reise. Der Drang danach mußte also seither plötzlich so gewachsen sein, vielleicht auf neue verlockende Berichte oder sich verbreitende Sagen, daß Martin nicht länger hatte widerstehen können.

Er erschien denn auch, noch vor elf Uhr, so frisch, freudig und fast stürmisch bei den Seinen, wie wenn er sieben Jahre jünger statt dreie älter geworden und ein brausender Windstoß neuen Lebens mit hereingekommen wäre. Als die Frau Marie ihn umarmte, empfand sie eine Art ehrerbietiger Scheu vor der Macht der Ideen, die in den Worten des Briefes lagen und jetzt über den Ozean her ihr den Mann in die Arme geweht hatten.

»Holla! Welch niedliche Backfische, die darf man ja kaum berühren!« rief er, als er die zwei Mädchen erblickte und sie trotzdem herzhaft küßte.

»Man sagt ihnen auch Hasenbraten!« rief Arnold, der sich auch bemerklich machen wollte.

»Ei, du Tausendskerl, Arnoldi, was sagst du da?«

»Du kommst gerade recht, Männchen!« rief die Frau, die laut lachend und voll Behagen sich niedersetzte, »dein Bub macht heut schon zum zweitenmal eine Art Witz! Er scheint unnütze Worte aufzulesen!«

»Mag er sie auflesen, wenn er sie nur gut anbringt! Komm, Arnold, und gib mir recht patriotischen Gruß und Handschlag! Laß sehen, wie bist du gewachsen? Nicht übermäßig, doch so so für deine elf Jahre! Und wie steht's mit der Schule?«

Er begann den Knaben abwechselnd mit den Mädchen zu befragen, während er das ihm bereitete Nachtmahl mit vielen Unterbrechungen einnahm; er merkte aber endlich, daß er in Hinsicht auf Methoden und Gegenstände nicht mehr auf dem laufenden war und daher die Kinder nicht ganz richtig fragen konnte.

Als Frau Salander es wahrnahm, säumte sie nicht länger, dem Manne den bereitgehaltenen Heimatgruß zu bieten, nämlich die erste Kanne gärenden Weinmostes, der eben im benachbarten Wirtshause zu haben war. Sie wußte, daß er den Trank liebte, aber seit zehn Jahren nicht mehr gesehen. Zugleich trug die Magd eine Schüssel voll gebratener Kastanien auf den Tisch, womit den Kindern ihr Recht wurde zum Gedenken dieser Glücksnacht. Um ein Uhr hob Frau Marie die Tafel auf und würde es wohl früher getan haben, wenn nicht soeben ein Sonntag angebrochen wäre."

Gottfried Keller: Martin Salander, 6. Kapitel)

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