01 Mai 2021

Gottfried Keller: Martin Salander 5. Kapitel (Heimatkunde und neuer Abschied Salanders)

 "Sie erreichten eine Hochstelle, vor welcher das östlich und nördlich gelegene Land sich wirklich weithin ausbreitete und in den Schmelz des schönsten Ferneblaus verlor. Unter einer Gruppe hoher Tannenbäume nahm eine Ruhebank sie auf, und sogleich suchten die Augen zwischen den sanft hinziehenden Erhebungen und dazwischen sich schmiegenden Gefilden ihre Heimatgegenden, und sie glaubten an sonnigem Hange eine Kirche oder ein Schulhaus weißaufschimmernd zu sehen. Salander rief die Kinder herbei und zeigte ihnen das Land. »Ich habe gelesen, daß in den letzten Jahren in der Schule eine Art Heimatkunde eingeführt worden; wie steht es damit? Was liegt dorthin für ein Landesteil?«

Sie wußten noch nichts; nur das ältere Mädchen nannte das nächste, worin sie wohnten, den Bezirk Münsterburg, und wußte auch, das es zwölf solcher Bezirke gebe.

»Gut! diese nannte man früher Oberämter, noch früher Vogteien, ehemals Herrschaften und Grafschaften«; eine solche umriß er, mit dem Zeigefinger einen bedeutenden Teil des Horizontes entlangfahrend. Die geschichtlichen Erinnerungen wachten auf und schlossen sich aneinander, bis die Gegenwart daraus hervorging, und alles schien ihm das sichtbare Land noch mehr zu verklären.

»Die Neue Welt jenseit des Meeres«, sagte er zur Frau, nachdem die Kinder wieder weggesprungen, »ist wohl schön und lustig für Menschen ausgelebter und ausgehoffter Länder. Alles wird von vorn angefangen, die Leute sind gleichgültig, nur das Abenteuer des Werdens hält sie zusammen; denn sie haben keine gemeinsame Vergangenheit und keine Gräber der Vorfahren. Solange ich aber das Ganze unserer Volksentwicklung auf dem alten Boden haben kann, wo meine Sprache seit fünfzehnhundert Jahren erschallt, will ich dazu gehören, wenn ich es irgend machen kann! Ich ginge doch ungern wieder fort!« [...] 


Es ist nicht der gleiche Fall!« erwiderte Martin, »es ist nicht dasselbe, ob wir wegen verlorener Güter verzagen oder ob wir verzichten wollen, mit frischer Tatkraft Verlorenes wieder zu erringen! Ich kenne nun einmal den Weg, soll ich ihn geflissentlich vermeiden? Denke an unsere Kinder, Marie!«

»Ach, ich denke eben an unsere Kinder! Müssen sie denn durchaus reich werden, um leben zu können?«

»Marie! Du hast ja erfahren, wie es kommen kann, wenn man nichts hat!«

Ohne hierauf zu antworten, fuhr sie fort: »Sieh, als wir im Walde droben auf der Bank saßen und in das heimatliche Land hinausschauten, da dachte ich bei mir selbst, es wäre vielleicht das beste für uns und die Kinder, wenn du dort herum wieder eine Schule übernehmen und der bösen Welt aus dem Wege gehen würdest! Mit dem Gelde, das du gerettet hast, wollten wir bequem auskommen und noch zurücklegen –«

Salander war durch die Rede seiner Gattin im alten Lehrergewissen getroffen, ohne daß sie es wußte; er war freilich ein Fahnenflüchtiger. Aber er ließ sie nicht ausreden, sondern faßte etwas krampfhaft ihre Hand: »Nach den Geniestreichen, die ich mit unserem Wohlerworbenen schon gemacht, begreife ich deinen Gedanken sehr gut, er ist billig und verständig! Aber ich kann nicht! Erstens würde ich kaum noch die nötige Übung und auch Erhaltung und Mehrung der Kenntnisse besitzen, um ohne weiteres ein Lehramt anzutreten, und zu einem Wiederholungskurs bin ich doch zu alt! Dagegen fühle ich mich noch jung genug, freiwirkend in der Welt zu stehen, wozu mich eben der Geist getrieben hat. Dazu brauche ich diejenige Unabhängigkeit, welche nur ein mäßiger Besitz verleiht; denn ein zu großer macht natürlich den Mann auch unfrei. Glaub nur, es wird mir gewiß noch gelingen! Ich werde nicht so lange fortbleiben, ein Teil der Geschäfte wird sich sogar hier abspielen und eine unvermutete Zwischenreise mit fröhlichem Wiedersehen nicht ausgeschlossen sein!«

»So nimm uns mit!« sagte sie mit brechender Stimme.

»Um euch Krankheit und Tod auszusetzen? Und dann geht es nicht, weil die Kinder hier im Lande geschult werden müssen.« Er nahm sie mit diesen Worten zärtlich in die Arme und hielt sie so lange, bis sie sich seinem Willensschlusse ergeben hatte.

Er besorgte nun zunächst den Umzug in die neue Wohnung, die so gelegen war, daß die Frau Salander allenfalls einem kleinen Warenhandel vorstehen konnte, den er von Brasilien aus eigens für sie zu unterhalten gedachte. Zu diesem Zwecke war im Erdgeschoß ein Magazin mit Schreibstübchen für die Frau Prokuraträgerin vorgesehen. Der Mann wollte auch sofort vorläufig eine Magd eintun mit der Mahnung, sobald notwendig, auch ein Gewerbsknechtlein zu beschaffen. Doch die Frau widersetzte sich ebenso vorläufig jeder Idee von Dienerschaft im Hause.

Als auch alles übrige verrichtet war, begleitete die kleine Familie den Martin Salander auf den Bahnhof, zu guter Zeit. Auch Herr Möni Wighart stellte sich um so pünktlicher ein, als er in der Restauration, den lustigen Verkehr des Frühherbstes betrachtend, eine Tasse kräftiger Fleischbrühe zu genießen pflegte. Er versprach dem Abreisenden, die Wohlwendsche Konkurssache unter der Hand zu beobachten und getreu zu berichten, was im Publikum vorgehe und geredet würde.

So fuhr Martin wieder den atlantischen Ufern zu.

(Gottfried Keller: Martin Salander 5. Kapitel)


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